Stellungnahme zu den Ermittlungen gegen die „Letzte Generation“

Die Generalstaatsanwaltschaft München hat in mehreren Bundesländern Durchsuchungen und Beschlagnahmungen gegen Angehörige der „Letzten Generation“ veranlasst. Sie ermittelt wegen des Verdachts der Bildung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.

Die Strafbarkeit der Bildung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung regelt § 129 StGB. Voraussetzung ist zunächst, dass der Zweck der Vereinigung auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet ist. Die bevorzugte Protestform der letzten Generation ist das Blockieren von Straßen, einschließlich Autobahnen. Dabei kann der Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllt sein, wenngleich die Frage der Verwerflichkeit bislang von Behörden und Gerichten unterschiedlich behandelt und Aktivist*innen auch vereinzelt freigesprochen wurden. Hinzu kommen einzelne Aktionen, die sich gegen Kunstwerke, Gebäude (z.B. die SPD-Parteizentrale) oder Monumente richten und Sachbeschädigungen (§ 303 StGB) darstellen können. Sofern sich vereinzelt Proteste gegen Öl-Raffinerien und Pipelines richteten, steht zudem der Vorwurf der Störung öffentlicher Betriebe (§ 316b Abs. 1 Nr. 2 StGB) im Raum. Die Letzte Generation wählt bewusst Protestformen, die einen (Straf-)Rechtsverstoß in Kauf nehmen. Wenngleich die Strafbarkeit bei vielen Aktionen fraglich erscheint, so gehört ihre Begehung grundsätzlich zu den Mitteln der Bewegung.

Weil § 129 StGB als „Vorfelddelikt” Handlungen bestraft, die weit im zeitlichen und räumlichen Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen liegen, und die Norm zudem als Katalogtat weitreichende Ermittlungsmaßnahmen und damit einhergehende Grundrechtseingriffe rechtfertigen kann (vgl. § 101a Abs. 2 Nr. 1 lit. d StPO), haben Gesetzgebung und Rechtsprechung zusätzliche Einschränkungen vorgenommen. Einerseits darf die Begehung von Straftaten gegenüber anderen Zwecken der Vereinigung nicht nur eine untergeordnete Rolle spielen (§ 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB). Andererseits ist zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine besondere Schwere der Straftaten erforderlich. Für eine kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB genügt also nicht jeder Verstoß gegen eine Strafvorschrift, vielmehr müssen die geplanten oder begangenen Taten “eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht” sein (Gesetzesbegründung, S. 10). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dies auf Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Vereinigung, deren Vorgehens und Motive sowie der Begleitumstände und Auswirkungen zu bewerten (BGH Urteil v. 4.8.1995 – StB 31/95, Rn. 13).

Gerade diese sprechen aber im Falle der Letzten Generation gegen die Annahme einer kriminellen Vereinigung. Die Proteste sind auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Wahrung der Lebensgrundlagen und des Klimaschutzgebots gerichtet. Sie machen darauf aufmerksam, dass Deutschland weit davon entfernt ist, seine klimapolitischen Ziele und Verpflichtungen zu erfüllen und dass die Zeit zum Handeln beschränkt ist. Dabei nehmen sie die verfassungsrechtlich garantierten Rechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit wahr. Ihr Protest war bislang komplett gewaltfrei, ungeachtet zahlreicher gewalttätiger Übergriffe auf die Aktivist*innen selbst. Eine besondere Gefährlichkeit, die § 129 StGB voraussetzt, ist nicht erkennbar. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft hat bereits erklärt, dass sie einen Anfangsverdacht nicht für begründet hält.

Man kann sowohl von den Anliegen als auch von den Protestformen der Letzten Generation halten, was man will, und diese Haltung auch öffentlich äußern. Die Meinungsfreiheit deckt insoweit auch fragwürdige RAF-Vergleiche von Politiker*innen und Rufe nach der “vollen Härte des Gesetzes”. Verfassungsrechtlich geboten ist auch, dass Strafverfolgungsbehörden dort, wo sie eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder strafbares Verhalten wahrnehmen, tätig werden. Überall dort, wo der Protest selbst oder das Verhalten einzelner Teilnehmenden die Grenzen zur Strafbarkeit überschreiten, setzt die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden zu entsprechenden Ermittlungen ein. Bislang haben sich die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ den strafrechtlichen Konsequenzen ihres Verhaltens kompromisslos gestellt.

Gerade weil § 129 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt eine erhebliche Vorverlagerung und Ausweitung der Strafbarkeit begründet, sind hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen – nicht nur im Rahmen der Annahme eines Tatverdachts, sondern auch bei der Wahl der Ermittlungsmaßnahmen. Das ist keine Frage kriminalpolitischen Fingerspitzengefühls, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot – erst recht, wenn sich die Ermittlungen dezidiert gegen politischen Protest richten.

Die Beschlagnahmung von Finanzmitteln, die Sperrung der Homepage und der Diskurs um die Verfolgung von Spender*innen der Gruppe bauen eine Drohkulisse auf. Es ist die Frage erlaubt, ob es hier wirklich (ausschließlich) um die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit geht. Ordnungs- und Strafrecht dürfen wohl unstreitig nicht dafür instrumentalisiert werden, politisch unliebsamen Protest zu delegitimieren und Aktivist*innen einzuschüchtern. Bayern befindet sich gerade im Wahlkampf für die bevorstehende Landtagswahl. Es ist zu hoffen, dass keinerlei Kausalzusammenhang zwischen Wahlkampf und Ermittlungen besteht. Schon der Anschein, dass eine politische Motivation für das Tätigwerden der Behörden vorliegen könnte, schädigt das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz.

Und was für ein Signal sendet eine Politik, die lautstark danach ruft, Klimaaktivist*innen einzusperren, gleichzeitig aber selbst aber ihren völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zu effektivem Klimaschutz nicht ausreichend nachkommt? Der Handlungsbedarf ist groß und die Zeit drängt: Mit den aktuellen politischen Programmen und Maßnahmen steuert die Welt auf eine durchschnittliche globale Erwärmung von rund 2,8°C bis zum Ende des Jahrhunderts zu – mit katastrophalen Folgen.


Justiziabilität von Grund- und Menschenrechten in der Klimakrise

Die Funktion subjektiver Rechte im System des Rechts nach Niklas Luhmann

ein Beitrag von Corinna Wilkening (LL.M.) zum Seminar „Wirtschaft, Politik und Recht in der Systemtheorie nach Niklas Luhmann“ des LS für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte von Prof. Dr. Benjamin Lahusen, Europa-Universität Viadrina, in Lecce

Am 28. Oktober 2021 erkannte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ein universelles Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt an.[1] Dem folgte die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der am 28. Juli 2022 verabschiedeten Resolution.[2] Gleichzeitig lässt sich beobachten, wie die gesellschaftlichen Spannungen aufgrund der zunehmenden zivilen Proteste gegen die Säumnisse in der Klimaschutzpolitik steigen. Vereinigungen wie Fridays for Future oder Letzte Generation üben vehement zivilen Ungehorsam, um Politik und Wirtschaft zum Einlenken zu bringen. Am 6. März 2023 kam es zur Verhängung der ersten Freiheitsstrafen: Das Amtsgericht Heilbronn verurteilte zwei Klimaaktivisten zu zwei bzw. drei Monaten Haft ohne Bewährung wegen Nötigung nach § 240 StGB, da sie eine Straße in Heilbronn blockierten.

Nicht nur die Politik gerät hingegen unter Druck. Über die vergangenen Jahre hinweg sammeln sich weltweit strategische Klimaschutzklagen vor Rechtsprechungsorganen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene. Anhand exemplarischer Fälle zeigen diese Klagen die Missstände in der Umsetzung der Ziele des Pariser Abkommens von 2015 auf, die Erderwärmung auf weit unter 2,0 °C und möglichst auf 1,5 °C zu begrenzen. Staaten als auch die Privatwirtschaft sollen durch Gerichtsurteil zum effektiven Klimaschutz, insbesondere zu weitgehenden Treibhausgasminderungen, verpflichtet werden. Solche Klimaschutzklagen lassen sich zwei Kategorien zuordnen: im Vertikalverhältnis[3] sind es insbesondere Klagen aus der Zivilgesellschaft gegen einen Staat bzw. gegen Staaten, im Horizontalverhältnis[4] handelt es sich um Klagen aus der Zivilgesellschaft gegen private Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie. Hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten sehen sich die Kläger:innen mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert: Erstinstanzliche US-amerikanische Gerichte wie etwa der Federal District Court des Bundesstaates New York wiesen bereits vertikale Klimaschutzklagen unter dem Terminus der political question doctrine mit der Begründung als unzulässig ab, Fragen der Klimaschutzpolitik seien nicht justiziabel und in die politische Eigenverantwortung der Exekutive und Legislative gestellt.[5] Dagegen wurde Gerichten, die vor dem Grundsatz der Gewaltenteilung keine Einschränkung ihrer richterlichen Kontrolle annahmen und die Regierung durch Urteil zu konkreten Klimaschutzmaßnahmen verpflichteten, ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung zulasten der Exekutive und Legislative vorgeworfen.[6] Die Begründung von deliktsrechtlichen Schadensersatz- bzw. eigentumsstörungsrechtlichen Unterlassens-Ansprüchen gegen Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie bereitet inter alia aufgrund der fehlenden unmittelbaren Bindung von Grund- und Menschenrechten im Horizontalverhältnis zwischen Privaten Schwierigkeiten. Dabei belegen Studien, dass 50 % der weltweit freigesetzten industriellen Treibhausgase im Zeitraum von 1988 bis 2015 auf 25 Unternehmen zurückzuführen sind, bzw. wurden im Zeitraum von 1965 bis 2018 rund 35 % der globalen CO2-Emissionen von den 20 größten Öl- Kohle- und Gaskonzernen ausgestoßen.[7]

Durch die „systemtheoretische“ Linse nach Niklas Luhmann blickend, bereitet dieser Artikel die Funktion des Rechts in der ausdifferenzierten Gesellschaft mit autonomen Subsystemen inter alia des Rechts, der Wirtschaft und Politik (I.) sowie die Entstehungsgeschichte und Funktion subjektiver Rechte im System des Rechts mit Blick auf strategische Klimaklagen auf (II.). So werden die Bedeutung, sowie die Möglichkeiten und Grenzen, strategischer Klimaschutzklagen nachvollzogen und zur Diskussion gestellt (III.).

I. Theorie sozialer Systemen nach Niklas Luhmann

Die evolutionären Übergänge von Gesellschaften vollzogen sich in einem Dreischritt: Von segmentären Gesellschaften innerhalb der Differenzierungsform der Zugehörigkeit zu einem Familienhaushalt bzw. zu einem Stamm über stratifikatorische Gesellschaften innerhalb der hierarchischen Grunddifferenz zwischen Adel und gemeinem Volk hin zur funktional differenzierten Gesellschaftsform.[8] Die evolutionäre Komplexitätssteigerung bedingte die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft.[9] Infolge der Gesamttransformation der Differenzierungsform hin zur funktionalen Ausdifferenzierung entstand eine polykontextuelle Ordnung, in der von keinem der funktionalen Teilsysteme – etwa des Rechts, der Politik und der Wirtschaft – die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert werden kann.[10]

1. Die Funktion des Rechts und die Autonomie des Rechtssystems

Das Teilsystem des Rechts unterscheidet sich von seiner Umwelt in der Funktion normative Erwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren.[11] Aus einer Vielzahl in der Gesellschaft – als bloße Gewohnheit, Sitte oder Moral – vorhandener normativer Erwartungen werden schützenswerte normative Erwartungen selektiert, um ihnen die Geltungskraft von Rechtsnormen zu verleihen und sie damit mit Stabilitäts- und Erfolgschancen zu versehen.[12] Kontrafaktische Stabilisierung bedeutet das Durchhalten einer normativen Erwartung trotz der sich realisierenden Zuwiderhandlungen in der Gesellschaft. So besteht etwa die normative Erwartung nicht zu töten ungeachtet der Tatsache, dass Menschen immer wieder umgebracht werden.

Im Gegensatz zur Politik ist das Recht heterarchisch organisiert, d.h. seine Geltung wird nicht politischer Durchsetzungsmacht oder sozialer Konvenienz überlassen, sondern es vollzieht seine – in der Systemtheorie als Autopoesis (aus dem Griechischen von autos: selbst und poiein: herstellen)[13] bezeichnete – operative Schließung durch die normative Erwartung, dass normatives Erwarten seinerseits normativ erwartet wird, im Sinne eines Konsens des gegenseitigen Anerkennens und Einforderns dessen, was Recht ist.[14] Die Positivierung des Rechts hatte die Überantwortung der Gesetzgebung auf die Politik zur Folge. Für die Autonomie des Rechts kommt daher den Gerichten als Entscheidungszentren des Rechtssystems eine tragende Bedeutung zu. In der Praxis operieren Gerichte zum einen als triviale Maschinen, indem sie auf einen bestimmten Input, d.h. eine Klage, hin einen bestimmten Output generieren und damit gleichgelagerte Fälle durch Anwendung des Gesetzes zuverlässig gleich entscheiden.[15] Zum anderen ist das Gerichtssystem aber auch zu Beobachtungen zweiter Ordnung imstande, indem es über vorausgegangene Entscheidungen und neue – durch eine Klage in das Rechtssystem eingespeiste – Informationen reflektiert und damit in die Lage versetzt wird, neue Entscheidungen zu fällen und Präzedenzfälle zu schaffen.[16]

Dabei sieht sich das Rechtssystem jedoch der Gefahr der Erosion seiner eigenen Grundlage ausgesetzt und droht sich aus seiner gesellschaftlichen Einbettung zu lösen: Es verhält sich nämlich gegenüber der Voraussetzung der Reflexivität, d.h. des wechselseitigen Anerkennens und Einforderns normativen Erwartens im Sinne eines gesellschaftlichen Konsenses dessen, was als Recht gelten soll, indifferent und kann diesen nicht in seinen Entscheidungen abbilden. So kommt es – mit Luhmanns Worten – zum „kontrafaktischen Trotz“[17] in der Gesellschaft, wenn sich neue normative Erwartungen in der Gesellschaft herausbilden, die sich in Widerspruch zum gesetzten Recht setzen. Sie treten dann als politische Forderungen auf und üben Druck auf die politischen Entscheidungszentren, die Legislative und Exekutive, aus.[18]

In unserem Kontext des Klimaschutzes kommt hinzu, dass sich Bürger:innen nicht nur zum zivilen Ungehorsam zusammenschließen, um die Politik zu Gesetzesreformen entsprechend der Klimaziele des Pariser Abkommens zu bewegen, sondern weltweit auch Druck auf das Rechtssystem ausüben, indem sie sich vor Gerichten auf ihre Grund- und Menschenrechte berufen. Im systemtheoretischen Jargon kann die Forderung, die fortscheitende anthropogene Erderwärmung auf weit unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C zu begrenzen, zusehends als deutlich artikulierte, normative Erwartung der Gesellschaft – kanalisiert durch zivilen Ungehorsam, weltweit eingelegte Klimaschutzklagen und die in die völkerrechtliche Form des soft-law gegossene Geltung eines universellen Menschenrechts auf eine sichere, gesunde, saubere und nachhaltige Umwelt – wahrgenommen werden.

2. Funktionsäquivalente von Zeitbindung mit sozialen Kosten

Die Funktion des Rechts schützenswerte normative Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, bedingt eine Zeitbindung mit sozialen Kosten. Hierzu bestehen in der Gesellschaft weitere Funktionsäquivalente, die eine Zeitbindung mit sozialen Kosten verursachen: Wie das Recht auf Dauer stellt, wer im Recht bzw. Unrecht ist, so determiniert der Geldgebrauch im Subsystem der Wirtschaft, wer arm und wer reich ist.

a)     Monetarisierung

Bis weit in die Neuzeit hinein wurde die Frage der Konditionierung und Verteilung knapper Güter und Hilfsleistungen als Rechtsproblem angesehen und über die Anerkennung des Rechtsinstituts des Sacheigentums gelöst. Mit der Monetarisierung hob sich diese auf das Eigentum gerichtete politisch-ökonomische Moraleinstellung auf, denn anders als mit dem Sacheigentum können mit Geld langfristig sehr differenzierte Interessen auf unbestimmte Zeit gesichert werden, ohne dass auf die Notlage anderer Rücksicht zu nehmen ist. Zwar schafft das Geld neue Summenkonstanten, die durch Deflation und Inflation sanktioniert werden, die soziale Rücksicht begrenzt sich in der Wirtschaft jedoch auf die Entgeltlichkeit des Erwerbs von Gütern und der Entgegennahme von Leistungen.[19]

Die Komplexitätssteigerung in der Gesellschaft hatte die funktionale Ausdifferenzierung sozialer Teilsysteme wie der Wirtschaft und des Rechts zur Folge, ohne dass die Teilsysteme die durch ihre funktionale Ausdifferenzierung hervorgerufenen Probleme lösten.[20] Entscheidungsträger in der Wirtschaft orientieren sich entsprechend ihrer funktionalen Differenzierung zuvörderst an dem binären Code Zahlung/Nicht-Zahlung, d.h. am Profit. Dabei verstärkt die traditionelle mikroökonomische Unternehmenstheorie der Gewinnmaximierung die Tendenz der Unternehmen bestimmte Effekte unternehmerischer Tätigkeiten zu externalisieren. Eine Externalisierung von Kosten liegt vor, wenn die Kosten für die Nutzung menschlicher und sachlicher Ressourcen – wie etwa Menschenrechtsverletzungen von Arbeitnehmern in Zulieferunternehmen oder verursachte Klima- und Umweltschäden – nicht in der jeweiligen Unternehmensbilanz der Marktteilnehmer abgebildet werden. Es entstehen Preise, die weder den tatsächlichen Mangel an Ressourcen noch die sozialen und ökologischen Schadens- und Gefahrvermeidungskosten wiedergeben. Dies hat zur Konsequenz, dass Produkte hergestellt und konsumiert werden, die aus volkswirtschaftlicher Sicht schädlich sind.[21]

b)    Staatliche und unternehmerische Risikoentscheidungen

Ein weiteres Beispiel der Zeitbindung mit sozialen Kosten weist mit Blick auf den fortschreitenden Klimawandel Aktualitätsbezug auf und kommt daher besondere Bedeutung zu: Das funktionale Äquivalent kann unter den Begriff des Risikos gefasst werden. „Gemeint sind damit Entscheidungen, die die Möglichkeit nachteiliger Folgen in Kauf nehmen; und dies nicht in der Form gegen zu buchender Kosten, deren Aufwendung gerechtfertigt werden kann, sondern in der Form möglicher aber mehr oder weniger unwahrscheinlicher Schäden, deren Eintritt die Entscheidung als Auslöseursache brandmarken und sie nachträglich der Reue aussetzen würde.“[22] Auch hier handelt es sich um die Zeitbindung mit sozialen Kosten, da die Schäden insbesondere Dritte betreffen und nicht (nur) diejenigen, die die Entscheidung getroffen haben bzw. von den positiven Auswirkungen der Entscheidung profitieren. Die Risikoeinschätzung, die Einschätzung der Vertretbarkeit des Risikoverhaltens und die Risikoakzeptanz differieren entsprechend der jeweils eingenommenen Perspektive. Je mehr die Zukunftswahrnehmung in den Horizont der Entscheidungsabhängigkeit einrückt, desto größer wird die Kluft zwischen Entscheidern und Betroffenen. Die sozialen Kosten entstehen in allen drei Bereichen – im Recht, in der Wirtschaft und im Fall von Risikoentscheidungen – bereits in der Gegenwart durch die jeweilige Zeitbindung, auch wenn sich die spätere Einschätzung noch ändern mag. Man ist im Recht oder Unrecht, ist arm oder reich, bzw. hat eine unterschiedliche Risikowahrnehmung, je nachdem, ob man in der Rolle des Entscheidenden ist oder des Betroffenen, der die Entscheidung anderer hinnehmen muss. Aus der Risikoperspektive ist die Zukunft allerdings weitestgehend unabsehbar, einerseits hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts und andererseits hinsichtlich der sich abzeichnenden Konsequenzen im Fall des Risikoeintritts.[23]

Die Problematik von Risikoentscheidungen könnte durch die anthropogene Erderwärmung wohl kaum deutlicher zur Anschauung gebracht werden. Die Wirkungsketten und Projektionen über den weiteren zu erwartenden Verlauf und die damit einhergehenden Auswirkungen beruhen nicht auf letzten Gewissheiten, sondern operieren mit Wahrscheinlichkeitsmodellen. So hat der IPCC für verschiedene Temperaturziele bestimmte Wahrscheinlichkeiten angegeben, mit welchen globalen CO2-Restbudgets diese erreicht werden können. Die Folgen lassen sich nicht exakt abschätzen, können aber von verheerendem Ausmaß sein. So werden insbesondere Kipppunktprozesse im Klimasystem als besondere Gefahr angesehen, weil durch sie ein kaskadenartiger Wandel des Erdsystems herbeigeführt wird, durch den die ökologische Stabilität aus den Fugen gerät.[24] Diese Risiken werden jedoch e.g. von Profitträgern großer Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie, die kaum bis überhaupt nicht von den Folgen des Klimawandels betroffen sein werden, anders bewertet, als etwa von jüngeren Generationen und Menschen, die bereits jetzt mit den Konsequenzen der Erderwärmung stark betroffen sind.

 

II. Justiziabilität von Grund- und Menschenrechten – die Entstehungsgeschichte und Funktion subjektiver Rechte

Aufgrund der beschriebenen Externalisierung klimabezogener Kosten in der Unternehmensbilanz und der klimaschädlichen Folgen von Risikoentscheidungen, sei es von Regierungen oder von Unternehmen, berufen sich Bürger:innen vor Gerichten auf ihre Grund- und Menschenrechte, um ihre Forderung nach einem effektiven Klimaschutz durchzusetzen.  In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Funktion subjektiver Rechte aus einer neuen Perspektive. Vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte und überlieferten Funktion wird ihre Justiziabilität in der Klimakrise analysiert und zur Diskussion gestellt.

1. 16. und 17. Jahrhundert – vom Naturrecht zur individuellen Freiheit als Rechtsquelle

Die Entstehung der Rechtsfigur subjektiver Rechte war eine Vorleistung auf den Rechtspositivismus. Ein Denken in subjektiven Rechten war so lange nicht möglich, wie die Vorstellung des Naturrechts, d.h. einer objektiven von der Schöpfung vorgegebenen Rechtsordnung des Gerechten vorherrschte.[25] Im 16. Jahrhundert leitete sich ius, das geltende Recht, aus dem Gerechten, obiectium iustitiae, im Sinne einer bereits vollzogenen Ordnung mit einem ihr innewohnenden Interessenausgleich ab. Die Vorstellung von ihr immanenten konsolidierten Reziprozitäts- und Hilfsbeziehungen lässt sich weit auf sämtliche Rechtsvorstellungen älterer Gesellschaftssysteme zurückführen.[26] Während das Begriffsverständnis der actio den Begriff Klage zunächst ausschloss und nur die Fähigkeit, mit Rechtswirkungen handeln zu können, umfasste, beginnt sich allmählich aufgrund antiker und mittelalterlicher Überlieferungen der Gedanke einer individualistischen, aktivistischen und voluntaristischen Rechtsbegründung zu konsolidieren.[27]  Im 17. Jahrhundert wird ius als facultas (Fähigkeit), potestas (Leistung), potentia licitia (rechtmäßige Macht) verstanden und ermöglicht die Individualzurechnung von Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten.[28] Thomas Hobbes geht von einem Konzept natürlicher, individueller Rechte aus, vor dem sich der politische Körper als untergeordnet darstellt und dem Schutz individueller Freiheit zu dienen bestimmt ist.[29] Durch Immanuel Kant erfährt die individuelle Freiheit, verstanden als Bewusstseinstatsache, aufgrund der menschlichen Fähigkeit zur Vernunftkontrolle eine Rückführung zur Pflicht gegenüber sich selbst. Freiheit ist zugleich Pflicht und a priori weitestgehend unabhängig von der politischen Ordnung gegeben.[30] Der Abstraktionsgewinn der Rechtsfigur individueller Rechte ermöglicht folglich ein weites Begriffsverständnis der actio im Sinne einer Klage und findet seine Vollendung in der Begründung materiell-rechtlicher Ansprüche.[31]

2. Abstraktionsgewinn der Rechtsfigur subjektiver Rechte und ihre Funktion

Der Grund für die Beibehaltung der Rechtsfigur subjektiver Rechte liegt darin, dass sich das Denken in konkret lokalisierten Reziprozitäten in zunehmend komplexer werdenden Gesellschaften nicht mehr durchhalten lässt. Das komplementäre Erwarten und Anerkennen in reziproken Beziehungen wird von der Wahrnehmung eigener Rechte abgelöst. Der sozial andere wird aus sozialen Beziehungen gelöst und ist Träger korrespondierender subjektiver Rechte.[32] Zudem bewährt sich die Rechtsfigur individueller Rechte auch als Korrelat des Sozialstaates. Der Staat ist mit den Folgen der funktionalen Ausdifferenzierung konfrontiert, da die Ungleichheit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zunehmend steigt. Die soziale Lage im Sinne des gleichen und gerechten Zugangs zu den Leistungen der Funktionssysteme – des Rechts, der Wirtschaft, Politik, Erziehung usf. – wird zur politischen Frage und über die Schaffung einer Vielzahl von Sozialleistungen gelöst, die als Rechtsansprüche formuliert werden. Die subjektiven Rechte werden zum Instrument des positiven Rechts und ihre Bedeutung als Rechtsquelle eigener Art tritt in den Hintergrund.[33] Daneben bleibt aber ihre überkommene Funktion – wie sie bereits in antiken Überlieferungen über Athen des Perikles und Euripides enthalten ist, die Unterworfenen gegen die Mächtigen zu schützen –, i.e. politische Macht zu begrenzen, erhalten.[34] Die Steigerung der Kommunikationslasten in der ausdifferenzierten Gesellschaft bedingen gerade die Herausbildung komplexerer Kommunikationsweisen. Die Garantie von Freiheit fungiert daher auch als Garantie von Kommunikationschancen.[35]

 

III. Diskussion – Funktion strategischer Klimaschutzklagen

Hieraus schließt sich, dass strategische Klimaschutzklagen vor allem ein kommunikatives Instrument sind, um über den konkreten Fall hinaus und unabhängig von den Erfolgsaussichten der Klage öffentlichkeitswirksam zu verdeutlichen, wo es Missstände im geltenden Recht und Bedarf für umfassende Rechtsänderungen gibt.  Luhmann spricht in seinem Werk „Recht der Gesellschaft“ davon, dass das Gerichtssystem ein professionelles Interesse daran haben sollte von unten her zu plädieren.[36]  In diesem Zusammenhang kommt der Justiziabilität von Grund- und Menschenrechten eine tragende Rolle zu. Berufen sich Bürger:innen vor Rechtssprechungsorganen auf ihre Grund- und Menschenrechte, so ermöglicht dies den Gerichten als Entscheidungszentren des Rechtssystems neue Informationen aus der Umwelt aufzunehmen und das im politischen Prozess verabschiedete Recht und überkommene Rechtsfiguren auf ihre zeit-, sach- und verfassungsgemäße Anwendbarkeit zu prüfen und gegebenenfalls fortzuentwickeln. Zwar wird Gerichten teilweise vorgehalten, für solche komplexen gesamtgesellschaftlichen Problemlagen wie den Klimawandel nicht hinreichend personell und institutionell ausgestattet zu sein.[37] Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich auch das Gericht über Fachgutachten die notwendige Expertise verschaffen kann. Nicht zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach und zuletzt im Klimaschutzbeschluss vom 24. März 2021[38] bewiesen, dass der Gesetzgeber nicht unbedingt besser beraten ist als das Gericht selbst. Allein aufgrund der unmittelbaren demokratischen Legitimation des Parlaments als Repräsentativorgan des Volkssouveräns und der demgegenüber bloß mittelbaren demokratischen Legitimation eines Verfassungsgerichts, ist die grundsätzliche Zurückhaltung, die das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Einschätzungs- Bewertungs- und Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers im Klimaschutzbeschluss zunächst angenommen hat, begrüßenswert.[39]

1. Defizite der Justiziabilität von Grund- und Menschenrechten und Ausblicke

Aufgrund des Durchsetzungsdefizits von Grund- und Menschenrechten auf horizontaler Ebene, bestehen jedoch erhebliche Schwierigkeiten, hauptverantwortliche Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, gleichwohl die Notwendigkeit der rechtlichen Einhegung wirtschaftlicher Betätigung von Großkonzernen der fossilen Brennstoffindustrie im Kontext der Klimakrise offen auf der Hand liegt.

a)     Private enforcement zur Durchsetzung höherrangiger Garantien

Von Seiten der EU-Kommission[40] wie aus der Rechtswissenschaft[41] liegen Vorschläge für eine gesellschaftsrechtliche Schärfung der Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten vor, indem eine Climate Responsibility als Subkategorie von CSR-Belangen (Corporate Social Responsibility) geschaffen werden soll.  In diesem Zusammenhang sind öffentlich-rechtliche Garantien wie Grund- und Menschenrechte allerdings nicht justiziabel. Als strategische Klage kommt hier eine Aktivierung subjektiver Rechte von shareholdern in Betracht.[42] Beispielhaft steht an dieser Stelle Australiens Corporations Act 2001 (sth) s. 180162, der von der Unternehmensleitung erwartet, dass sie die finanziellen Risiken des Klimawandels für ihre wirtschaftliche Tätigkeit gründlich analysiert, ihre Unternehmensführung entsprechend gestaltet und umfassend klimawandelbedingte Risiken offenlegt.[43] Hierauf gestützt, leitete bereits 2017 eine Aktionärsgruppe ein Verfahren gegen die Commonwealth Bank of Australia ein und rügte eine unzureichende Offenlegung der klimawandelbedingten Unternehmensrisiken. Die Commonwealth Bank of Australia hatte sodann das Risiko des Klimawandels anerkannt und zugesagt, eine dahingehende Risikoanalyse durchzuführen.[44] Auf die unzureichende Offenlegung klimawandelbedingter Risiken bezieht sich auch die im Juli 2020 eingereichte Klage einer Studentin gegen die australische Regierung mit dem Vorwurf, die Klimaschutzpolitik der australischen Regierung spiele eine wesentliche Rolle für das Ansehen Australiens auf den internationalen Finanzmärkten und hätte somit Einfluss auf die Werthaltigkeit ihrer Staatsanleihen.[45] Solche strategischen shareholder-Klagen stehen noch am Anfang und verdeutlichen, dass die Öffnung zur privaten Rechtsdurchsetzung, indem subjektive Rechte des Privatrechts zur Durchsetzung höherrangiger Garantien der Grund- und Menschenrechte herangezogen werden (sog. private enforcement), zu einer signifikanten Rechtsentwicklung für die Bewältigung der Klimakrise beitragen kann (leverage-Funktion).[46]

b)    Vollstreckungsdefizite und Aufgabe der Gerichte

Darüber hinaus zeitigt sich auch das Problem des Vollstreckungsdefizits erfolgreicher Klimaschutzklagen im Vertikalverhältnis. Zum Beispiel bleiben die Bundesministerien insbesondere für den Verkehrs- und Gebäudesektor bisher weit hinter den infolge des Klimaschutzbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts nachgebesserten Emissionsminderungszielen zurück. Vielmehr wird im Kabinett die weitere Aufweichung der Treibhausgasminderungsziele diskutiert, indem die sektorspezifischen Minderungsziele der Anlage 2 zu § 4 Klimaschutzgesetz eingeebnet werden sollen.[47] Diese Entwicklungen reduzieren den Erfolg der Verfassungsbeschwerden auf eine bloß symbolische Wirkkraft, der in einem Reputationsschaden der Regierung kulminiert und nur die Hoffnung verbleiben lässt, dass dieser sich im zukünftigen Wahlergebnis abzeichnen wird.

 

2.     Fazit

Das Gericht kann – wie es das Bundesverfassungsgericht im Klimaschutzbeschluss getan hat – der Politik wegweisende inhaltliche Vorgaben für die Umsetzung einer umfassenden Klimaschutzpolitik machen.[48] Im Klimaschutzbeschluss hob das Gericht hervor, dass der über Wahlperioden kurzfristig organisierte demokratische politische Prozess, sich tendenziell an direkt artikulierbaren Interessen orientierend, strukturell Gefahr liefe, schwerfällig auf langfristig zu verfolgende ökologische Belange zu reagieren. Da die besonders betroffenen künftigen Generationen heute naturgemäß keine eigene Stimme im politischen Willensbildungsprozess hätten, würde die Verfassung mit Art. 20a GG politische Entscheidungsspielräume begrenzen.[49] Es bleibt jedoch offen, wo diese Grenze konkret verläuft. Zuletzt nahm das Bundesverfassungsgericht die auf die Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesautobahnen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an mit der Begründung, es sei nicht substantiiert dargetan, dass es bis zum Jahr 2030 zu erheblichen Freiheitsbeschränkungen kommen werde, weil der Verkehrssektor sein gesetzlich vorgeschriebenes Emissionsminderungsziel nach heutigem Stand voraussichtlich nicht erreichen werde. Das punktuelle Unterlassen des Gesetzgebers z.B. im Bereich des Verkehrssektors, führe nicht zur unverhältnismäßigen Verlagerung von Treibhausgasminderungslasten in die Zukunft. Vielmehr sei nicht nachvollziehbar, weshalb die im Verkehrssektor gesetzlich gebotenen Einsparungen gerade im Verkehrssektor und durch ein Tempolimit erbracht werden sollten.[50] Damit zieht sich das Gericht auf seine Zurückhaltung gegenüber dem weiten Einschätzungs-, Bewertungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers zurück. Dabei verbleibt es in der Verantwortung des Gerichts zu bestimmen, wo die konkrete Grenze zu einer Klimaschutzpolitik verläuft, die „erheblich hinter dem Schutzziel [zurückbleibt] […]“[51] und damit die überkommene Funktion subjektiver Rechte, die Politik an das Recht zu binden, zu bewahren und mit Leben zu füllen.

[1] United Nations Human Rights Council [UNHRC], The human right to a safe, clean, healthy, and sustainable environment, 48. Sitzung, angenommen am 8. Oktober 2021, A/HRC/L.23/Rev. 1.

[2] United Nations General Assembly [UNGA],The human right to a safe, clean, healthy and sustainable environment, angenommen am 28. Juli 2022, A/RES/76/300.

[3] Der vertikale Klagetyp unterteilt sich in vier Gruppen: Klagen von Privatpersonen gegen öffentliche Einrichtungen, e.g. US District Court for the Southern District of Texas, Weems & Kelsey Management Company No. 2, Ltd. v. Chevron USA, Inc., eingereicht am 30. Mai 2018, n. 3:18-CV-00165, oder umgekehrt, von öffentlichen Einrichtungen gegen Privatpersonen, e.g. New York City v. BP, Chevron, Conoco, Exxon, Shell, und zuletzt Klagen von öffentlichen Einrichtungen gegeneinander, wie, inter alia, US Supreme Court, Massachusetts v. US Environmental Protection Agency, Beschl. vom 2. April 2007, n. 549 US 497; cf. Winter, Armando Carvalho et alii versus Europäische Union, ZUR 5 (2019), 259-271 (259).

[4] Menschenrechtskommission der Philippinischen Republik, Memorandum for Petitioners, in Re National Inquiry on the Impact of Climate Change on the Human Rights of the Filipino People and the Responsibility therefor, if any, of the “Carbon Majors” [2019] CHR-NI-2016-0001; cf. Greenpeace Philippines, The Climate Change & Human Rights Inquiry (Archive), siehe https://www.greenpeace.org/philippines/the-climate-change-human-rights-inquiry-archive/; Bezirksgericht Den Haag, Milieudefensie v. Royal Dutch Shell PLC, Urt. vom 26. Mai 2021, n. C/09/571932 / HA ZA 19-379, eine offizielle Übersetzung des Urteils ist aufrufbar unter http://climatecasechart.com/non-us-case/milieudefensie-et-al-v-royal-dutch-shell-plc/; Landgericht Essen, Lliuya v. RWE, Urt. vom 15. Dezember 2016, n. 2 O 285/15, Oberlandesgericht Hamm, Lliuya v. RWE, Hinweis- und Beweisbeschl. vom 30. November 2017, n. 1-5 U 15/17.

[5] US District Court S.D. New York, Connecticut v. American Electric Power, 406 F. Supp. 2d 265, 267 (S.D.N.Y. 2005).

[6] E.g. Wegener, Urgenda- Weltrettung per Gerichtsbeschluss?, ZUR 3 (2019), 3-13 (6, 12).

[7] Climate Accountability Institute, siehe https://climateaccountability.org/carbonmajors.html; Climate Accountability Institute, siehe https://climateaccountability.org/carbonmajors.html; cf. Katja Gelinsky, Schönfärberei beim Klimaschutz kann haftungsrechtlich gefährlich sein, Interview mit Professor Marc-Philippe Weller, 4. Oktober 2021, siehe www.kas.de/de/interview/detail/-/content/schoenfaerberei-beim-klimaschutz-kannhaftungsrechtlich-gefaehrlich-we.

[8] Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, Frankfurt (Main) S. 611f.; Horster, Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Band 45 (2013) Berlin, S. 6.

[9] Luhmann, Recht der Gesellschaft (1993), S. 140.

[10] Ibid., S. 144.

[11] Ibid., S. 143.

[12] Ibid., S. 137.

[13] Luhmann, soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984), S. 624.

[14] Ibid., supra Fn. 9, S. 144.

[15] Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 6. Aufl. (2011), S. 95.

[16] Luhmann, supra Fn. 9, S. 145.

[17] Luhmann, ibid., S. 149.

[18] Ibid., S. 148-150.

[19] Ibid., S. 140f.

[20] Ibid., S. 140.

[21] Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen, AcP 219 (2019), 155-210 (160 f.).

[22] Luhmann, supra Fn. 9, S. 141f.

[23] Ibid., S. 141 ff.

[24]  Sachverständigenrat für Umweltfragen, Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland, Umweltgutachten 2020, S. 39f. m.w.N.; cf. Bundesverfassungsgericht, Beschl. vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/18 et al., Rn. 21, siehe https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.h mtl.

[25] Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zu Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2 (1981), S. 47.

[26] Ibid., 49f., 53.

[27] Ibid., S. 52.

[28] Ibid., S. 56f.

[29] Ibid., S. 58.

[30] Ibid., S. 62f.

[31] Ibid., S. 65.

[32] Ibid., S. 73.

[33] Ibid., S. 83.

[34] Luhmann, supra Fn. 9, S.151.

[35] Luhmann, Grundrechte als Institution, Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 4. Aufl., (1999), Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 4, S. 19, 23.

[36] Luhmann, supra Fn. 9, S. 151.

[37] E.g. Wegener, supra Fn. 9, (11).

[38] Bundesverfassungsgericht, supra Fn. 24.

[39] Ibid., Rn. 153f.

[40] Europäische Kommission, Gerechte und nachhaltige Wirtschaft: Kommission legt Unternehmensregeln für Achtung der Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten fest, 23. Februar 2022, siehe https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1145.

[41] e.g. Weller/Tran, Klimawandelklagen im Rechtsvergleich, ZEuP (2021), 573-604 (600-602), (605); Habersack/Ehrl, supra Fn. 18, 155-210 (208 f.).

[42] E.g. Superior Court of California, Shupak v. Reed, (anhängig), n. BC617444, Klage v. 19. April 2016; Central District Court of California, Barnes v. Edison International, n. 2:18-cv-09690, 27. April 2021; Superior Court of New York, People of the State of New York v. Exxon Mobil Corporation, n. 452044/2018, Entscheidung v. 27. Februar 2020; Northern District Court of Texas, Ramirez v. Exxon Mobil Corp. et al., (anhängig), n. 3:16-cv-3111, Klage v. 11. Juni 2016; cf. Emily Strauss, Climate Change and Shareholder Lawsuits, Juli 2022, Duke Law School Public Law & Legal Theory Series No. 2022-41; siehe auch Regional Court in Poznan, ClientEarth v. Enea, Urt. vom 8. Januar 2019; The Polish National Contact Point for OECD Guidelines for Multinational Enterprises (NCP), Development YES – Open-Pit Mines NO v. Group PZU S.A., Stellungnahme vom 26. Juli 2019.

[43] Corporations Act 2001 (Sth), no. 50, 2001, zuletzt geändert durch Act no. 112, 2017.

[44] Commonwealth Bank of Australia, Annual Report 2017, siehe https://www.commbank.com.au/content/dam/commbank/about-us/shareholders/pdfs/2017- asx/Annual_Report_2017_14_Aug_2017.pdf (16.2.2021), Pressemitteilung der Commonwealth Bank of Australia v. 21. September 2017, siehe https://www.commbank.com.au/guidance/newsroom/climate-change-risk-reporting-case-dropped-201709.html?ei=card-view; cf. Weller/Tran, supra Fn. 41, 573-604 (600 f.)

[45] Federal Court of Australia, Kathleen O’Donnell v Commonwealth of Australia & ORS, Urt. vom 8. Oktober 2021, VID 482 of 2020, siehe climatecasechart.com/non-us-case/odonnell-v-commonwealth/; cf. Weller/Tran, ibid., (583), (601).

[46] Weller/Tran, ibid., (574).

[47] Pausch, Olaf Scholz wollte Sektorziele beim Klimaschutz abschaffen, Zeit Online, 31. März 2023, 13:30 Uhr, siehe https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-03/klimaschutzgesetz-olaf-scholz-koalitionsausschuss.

[48] BVerfG, supra Fn. 24, Rn. 206.

[49] Ibid., Rn. 206.

[50] BVerfG, Beschl. vom 15. Dezember 2022 – 1 BvR 2146/22 – Rn. 5.

[51] BVerfG, supra Fn. 24, Rn. 152.


Transformationshoffnung Recht? – Resümee eines Wochenendseminars

Ulrike Jürschik, Caterina Kähler, Henrike Lindemann, Marvin Neubauer und Klara Podzuweit im Nachgang zum Wochenendseminar „Transformationshoffnung Recht?“

Ob Klimawandel, gesellschaftliche Polarisierung, Biodiversitätsverlust oder die zunehmende Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch Pandemien: Multiple soziale und ökologische Krisen der Gegenwart machen deutlich, dass ein „Weiter-wie-bisher“ an vielen Stellen keine Option ist. Tiefgreifende Wandlungsprozesse in der Art des Wirtschaftens, in unseren alltäglichen Routinen, im gesellschaftlichen Naturverhältnis und Weiterem – sprich: sozial-ökologische Transformationen – sind notwendig. Trotz zunehmender Proteste, Streiks und anderer aktivistischer Formate kommt der gesellschaftliche Wandel zu langsam voran. Die strukturelle Nicht-Nachhaltigkeit der Externalisierungsgesellschaft erfordert es, den Blick für die (Gestaltungs-)Möglichkeiten und Barrieren sozialen Wandels zu schärfen. Veränderungen werden kommen – es stellt sich nur die Frage, ob sie by design oder by disaster geschehen.
In den letzten Jahren ist, zum Beispiel im Rahmen von Klimaklagen, zunehmend das Recht als „Transformationshoffnung“ in Erscheinung getreten. Inwiefern ist diese Hoffnung berechtigt? Und was bedeutet diese neue gesellschaftliche Rolle des Rechts für Rechtswissenschaft und -praxis? Das Wochenendseminar „Transformationshoffnung Recht?“, das vom 28. bis 31.10.2022 auf dem Flensunger Hof in Mücke/Hessen stattfand, brachte einige Ergebnisse und Thesen zur Rolle des Rechts und von Jurist*innen in sozial-ökologischen Transformationsprozessen hervor. Diese sind für den folgenden Text in eine Ordnung gebracht worden. Die folgenden Ausführungen bilden damit also keine Eigenleistung der Verfasser*innen, sondern die Sicherung der Leistung der Seminargruppe.

Sozial-ökologische Transformationen – zur Einführung

1) Kein Wandel im Handeln ohne einen Wandel im Denken: Eine sozial-ökologische Transformation lässt sich nicht hierarchisch vollziehen. Maßgeblich ist der Rückhalt und die Legitimation der Menschen, die eine entsprechende Zukunftsvision stützen. Dabei sind sich vielfältige Hindernisse für Transformationsprozesse vor Augen zu führen. Pfadabhängigkeiten, die Transformationsprozesse hindern, entstammen nicht nur materiellen Infrastrukturen, wie dem Straßennetz, sondern auch mentalen Infrastrukturen, etwa der Bedeutung von nichtnachhaltigem Konsum für die alltägliche Lebensgestaltung. Für die Veränderung von mentalen Infrastrukturen braucht es Reflexion auf individueller sowie gesellschaftlicher Ebene. Die Diskurse um die Klimakrise und deren Lösungen sind zudem durchzogen von Machtverhältnissen. Sie sind somit alles andere als apolitisch oder rein wissenschaftlich zu beantworten.
Transformation ist ohne den Wandel in der Gesellschaft verankerter Ideologien und Werte nicht zu haben. Visionen können hier große Kraft entfalten und sind wichtig, um der Transformation eine Richtung zu geben und Hindernisse zu überwinden.

2) Mehr als Ökologie – Über das Zusammendenken verschiedener Transformationsprozesse: Es muss eine gute, gerechte, soziale, feministische, antirassistische alternative Lebensform angeboten werden, um die derzeitige kapitalistische und zerstörerische Gesellschaftsform zu transformieren. Es ist erforderlich verschiedene transformative Bewegungen, etwa die Umweltbewegung, Bewegungen des Antikolonialismus, des Feminismus, der sozialen Gerechtigkeit, im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation zusammenzudenken und zu verknüpfen. So müssen u. a. die kolonialen Rohstoffabhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen aufgebrochen werden, um die Defossilisierung der Erde zu erreichen. Ansonsten droht Klimaschutz ein weißes Prestige-Projekt zu bleiben und zu scheitern. Auch Jurist*innen in Deutschland müssen sich mit der „MAAFA“ auseinandersetzen (Swahili: „große Tragödie“ – Überbegriff für die Verbrechen, die den Menschen auf dem afrikanischen Kontinent von Nicht-Afrikaner*innen zugefügt wurden, wie Versklavung, Kolonialisierung, Genozide, Ökozide, Neo-Kolonialismus, Nazismus, Rassismus). Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit fordert ein Handeln nach dem Leitbild Care & Repair. Dieses beinhaltet die Anerkennung und Aufarbeitung der MAAFA (inkl. offizieller Entschuldigungen), Kompensation/Reparation (durch finanzielle Entschädigungen, z.B. Landrückgabe), Garantien der Nichtwiederholung (durch Gesetzesinitiativen, z.B. Ökozidgesetz) und Transformation als Schritte in eine postkoloniale Zukunft. 1

3) Eine andere Welt muss erstritten werden: Sozial-ökologische Transformationen verlangen den fundamentalen Umbau vieler Sektoren. Konflikte und Machtverschiebungen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sozialer Wandel spielt sich zwischen Beharrungskräften, langfristigem Wandel und Kipppunkten ab. Er ist weder deterministisch noch voluntaristisch, d. h. er läuft weder allein nach vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten ab, noch richtet er sich ausschließlich nach dem Willen der beteiligten Personen. Sozial-ökologische Transformation gelingt nicht nur dadurch, dass wir alle sie uns wünschen. Es braucht eine Analyse der gesellschaftlichen Konflikte und zentralen Akteure, Systeme und Dynamiken, die Beharrungskräfte entfalten. Werden sie nicht hinreichend beachtet oder gar verschleiert, lässt sich kein Wandel erreichen.

4) Wo Wandel entsteht: Viele Transformationstheorien beschreiben, dass das gesellschaftlich „Neue“ in den Zwischenräumen der herrschenden Ordnung wächst. In geschützten Räumen können neue (mentale) Infrastrukturen und soziale Praxen entstehen. Wird die herrschende Ordnung durch äußere Faktoren erschüttert, bekommen diese Nischenakteure und alternativen Praxen die Chance, als „soziale Innovationen“ zu wirken, Teile der Ordnung zu ersetzen und diese so zu verbessern. Häufig setzen Transformationsstrategien deshalb auf die Veränderungskeime an den gesellschaftlichen Rändern, in den Rissen und Nischen.

5) Die zwei Rollen sozialer Bewegungen: Es gibt mindestens zwei Arten, wie soziale Bewegungen an der Transformation mitwirken können. Sie können politisch-aktivistisch tätig sein und dadurch – als sog. „Landscape“ des politischen Systems – das Regime stören und Räume für Veränderung öffnen. Oder sie können in Nischen neue soziale Formen des Lebens und Wirtschaftens entwickeln und erproben, welche dann ins Regime Eingang finden können, sobald dieses durch äußere Krisen erschüttert oder politisch aufgebrochen wird. Beide Tätigkeitsformen und Typen von sozialen Bewegungen sind auf die je andere angewiesen und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Entsprechend sind Allianzen von handlungswilligen Akteuren zu initiieren und zu fördern.

6) Nachhaltigkeitstransformation global denken: Transformation darf nicht nur zum Nutzen einiger weniger Staaten sein und dabei auf Kosten von Menschen in anderen Ländern gehen. Die Transformationsdiskurse, die in den Ländern des Globalen Nordens geführt werden, finden jedoch aufgrund vorherrschender globaler Machtstrukturen vorwiegend unter Ausschluss von Menschen des Globalen Südens statt. Ohne die Stimmen und Perspektiven des Globalen Südens sind die Lösungsansätze, die im Globalen Norden entwickelt werden, häufig nicht nur überwiegend im Interesse des Globalen Nordens, sondern beruhen oftmals auf der Nutzung und der Verfestigung neokolonialer Diskriminierungs- und Ausbeutungsstrukturen. Um der fortschreitenden Verhärtung dieser postkolonialen Strukturen entgegenzuwirken und eine global gerechte Transformation zu gestalten, ist es nötig, dass Akteur*innen aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden zusammenarbeiten. Rechts- und Lebensformen aus anderen Teilen der Welt können Anlass und Vorbild sein, unsere mentalen Infrastrukturen zu verändern. Gleichzeitig ist anzuerkennen, dass eine gleichberechtigte wechselseitige Beeinflussung von Akteur*innen des Globalen Südens und des Globalen Nordens vor dem Hintergrund der derzeit vorherrschenden Machtasymmetrie unmöglich ist.

Recht transformativ denken – Recht transformativ nutzen

7) Wir brauchen jedes Rechtsgebiet: Der Pluralismus der Transformationsmodelle geht einher mit einem Pluralismus der „Hebelpunkte“ und transformativen Praxen – auch im Recht. Hebel bestehen in allen ‚klassischen‘ juristischen Feldern der Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichte. Sozial-ökologische Transformation ist ein Thema für alle Rechtsbereiche – im Privatrecht, im Strafrecht und im Öffentlichen Recht. Sei es die Entwicklung eines transformativen Wirtschaftsrechts oder die Einbeziehung des Arbeitskampfes in sozial-ökologische Kämpfe. Bestehendes Recht muss hinterfragt werden und neu gedacht werden. Wo verhindert Recht Transformation? Wo ermöglicht es Transformation? Was kann Recht für uns tun?

8) Recht als Problem, Recht als Lösung: Recht ist nicht nur Vehikel der Transformation, sondern auch eine Ursache der Krise, aus der ‚heraustransformiert‘ werden soll. Zur Initiierung und Dynamik der Triebkräfte des Wachstums hat ‚freisetzendes‘ Recht beigetragen. Die dadurch verursachten Umweltschäden sind durch das bisherige Umweltrecht nicht ausreichend verhindert worden. Transformatives Recht könnte als „Biosphärenrecht“ konzipiert werden. Es umfasst dann ein reformiertes Umweltrecht, ein Recht der stationären Wirtschaft und eine verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Biosphäre. Gelingt es nicht, ein Recht zu etablieren, das die Biosphäre als Lebensgrundlage erhält, wird – ob gewollt oder nicht – nicht viel verbleiben, als das Recht zu einem Notstandsregime zu entwickeln, das knappe Ressourcen zuteilt.

9) Recht als Ausdruck von Machtverhältnissen: Recht ist eine verbindliche Konkretisierung der Politik und damit auch „Sprache der Macht“. Das Recht ist ein Mittel zur Machtausübung – bestehende Machtstrukturen sind ihm inhärent. Recht bildet Machtverhältnisse ab und reproduziert bzw. verstärkt sie. Deshalb stabilisiert es bestehende Machtverhältnisse, kann aber auch ein Instrument „transformationsorientierter“ Politik sein, wenn es diese Machtverhältnisse aufbricht. Mit Blick auf Aktivismus kann Recht beispielsweise Repressionsinstrument, Repressionsabwehrinstrument und ein Instrument für aktivistische Störungen des Regimes sein. Wir kommen als Jurist*innen vielleicht nicht unmittelbar an die in der Gesellschaft vorherrschenden Ideologien heran. Wir können als Jurist*innen aber Ideologien im Recht aufdecken und damit angreifbar machen.

10) Recht gut im Gespräch: Transformationsprozesse gehen mit erheblichen Konflikten zwischen gesellschaftlichen Gruppen einher: Das Recht ist ein Instrument zur Konfliktaustragung und Konfliktordnung. Jurist*innen haben die Aufgabe, das Recht für alle Akteursgruppen innerhalb von Transformationsprozessen zugänglich und nachvollziehbar zu machen. Recht eröffnet eine eigene Ebene kommunikativer Gestaltungsspielräume. Juristische Denkweisen können dazu beitragen, komplexe Probleme nüchtern und klar zu ordnen und Abwägungsvorschläge zu formulieren. Recht kann also nur transformierend wirken, wenn es in Dialog mit seinem Umfeld tritt.

11) Strategisch klagen: Klagen können zur Zielsetzung und -schärfung der Transformation beitragen. Strategische Prozessführung hat die Funktion, Lücken und Problemfelder im Regime aufzuzeigen. Jurist*:innen sollen durch Klagen den Vollzug klarer rechtlicher Standards einfordern (bspw. Grenzen für Luftreinheit). Bei unklaren Standards können Jurist*:innen zur Konkretisierung beitragen. Strategische Prozessführung und damit auch Klimaklagen haben erhöhte Erfolgschancen, wenn die Kläger*innen und beteiligten Jurist*innen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und sozialen Bewegungen zusammenarbeiten und verschiedene Säulen staatlicher Gewalt zugleich einbezogen oder angegriffen werden. Es kann dabei helfen, das Anliegen in den Rahmen der Verfassung einzuordnen und Rechtsmittel mit anderen politischen Ansätzen (z.B. Protestformen sozialer Bewegung) zu verknüpfen. Klimaklagen sind dennoch eher als „Schubs“ zu verstehen, nicht als Weltrettung. Es ist deshalb auch die Verantwortung der Jurist*innen, die Hoffnungen, die die Öffentlichkeit in Klimaklagen, Gerichte und aktivistische Anwält*innen setzt, am Maßstab der tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen des Rechts als Transformationsmechanismus zu messen und ggf. öffentlichkeitswirksam zu dämpfen. Klagen sind aber essentiell, um die „Must-Dos“ einer Transformation einzufordern: Vollzug des Umweltrechts, Schaffung neuer Rechtsinstitute sowie verfassungsrechtliche Aufwertung von Umwelt- und Naturschutz.

12) Transformationshoffnungen im Recht – mehr als Strategische Prozessführung: Es bestehen zahlreiche, über strategische Klagen hinausgehende, transformative Ideen für das Recht und konkrete Möglichkeiten, das Recht transformativ zu nutzen. Funktionen des Rechts für die Transformation können auch sein, Räume für Experimente zu öffnen, Akteur*innen zu befähigen und Richtungen vorzugeben. Recht kann empowern, wenn es ein Gestaltungsmittel ist, das für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zugänglich wird. In interdisziplinären Prozessen können Jurist*innen in Zusammenarbeit mit praktischen Initiativen schnell Wirkung entfalten, etwa in transformativen Law Clinics, Reallaboren für Commons oder Co-City-Projekten. Recht kann entsprechende Nischen schaffen und schützen (z. B. durch Haftungsfreistellung, Abweichungen von Standards). Haben Nischenakteure in rechtlichen Freiräumen neue soziale Praxen ausgehandelt und erprobt, sollten Jurist*innen von ihnen lernen, um das Recht transformativ weiterzuentwickeln – anstatt solche Reallabore für unmöglich zu erklären, in bestehende Rahmen zu zwingen oder als nicht regulierbaren, rechtsfreien Raum zu diskreditieren. Als Transformationshoffnung diskutiert werden Eigenrechte der Natur, die bisher überwiegend in Ländern des globalen Südens eingeführt wurden. Es handelt sich um eine hybride Rechtsentwicklung, bei der ein Rechtsinstitut aus dem globalen Norden (subjektive Rechte) für die Umsetzung indigener Weltsichten aus dem globalen Süden in dortige Rechtssysteme genutzt wird. Eigenrechte der Natur haben zwar nur ein begrenztes Potenzial für Transformationen, wenn sie in einer Abwägung mit derzeit bestehenden menschlichen Interessen an schädlichen Formen des Naturverbrauchs stehen, die höher gewichtet zu werden drohen. Dennoch bieten sie für unsere Mitwelt emanzipatorische Kraft. Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet etwa eine sozial-ökologische Nutzung bestehenden Rechts, etwa des Sozialisierungsinstruments gem. Art. 15 GG, dessen Anwendung juristischer Vorbereitung bedarf. Transformationspotenzial besteht auch bei der Gestaltung und Anwendung von Recht. Dazu braucht es Beteiligungsrechte in Rechtssetzung und Rechtsanwendung, einen lernenden Gesetzgeber (z.B. durch Evaluation), um fehlerfreundlich zu sein und Trägheit zu überwinden, sowie agile, fehlerfreundliche und nutzer*innenorientierte Verwaltungsstrukturen.

Von einer Transformationstheorie über das Recht zu einer Transformation der Rechtswissenschaft und der Jurist*innen selbst

13) Für die Transformation braucht es Rechtswissenschaftler*innen, die diese Demokratie neu denken: Die Transformation des Rechts ist abhängig von der Transformation der Gesellschaft. Das Recht ist nicht getrennt von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu betrachten. So müssen etwa soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zusammen verhandelt werden, beide bedingen sich. Die Transformation des Rechts muss deshalb die Transformation der Gesellschaft mitdenken und miteinbeziehen. Zugleich sind Jurist*innen aber auch ein Teil der Gesellschaft. Sie können sie mitgestalten. Es braucht eine rechtswissenschaftliche Transformations- wie transformative Forschung, die sich in rechtswissenschaftliche wie gesellschaftliche Diskurse einschaltet.

14) Für eine Selbstreflexion der Jurist*innen: Für die Transformation der Gesellschaft braucht es eine Transformation der Rechtswissenschaft: Ein Aufdecken und anschließendes Aufbrechen der im Recht reproduzierten Machtstrukturen. Eine inklusive Sprache, Strukturen und Plattformen, die Stimmen Raum geben, die bisher wenig oder gar nicht gehört wurden, und die Demut, dass auch Jurist*innen nur Teil des großen Ganzen sind. Dabei ist es essentiell, die eigene Positionierung (z.B. als weiße*r Akademiker*in) zu hinterfragen. Wer wird im Recht repräsentiert, wer gehört und wer überhört? Wie kann ein neues Rechtsbewusstsein aussehen, das Recht als gemeinschaftliches Gestaltungsinstrument versteht? Dafür bedarf es auch einer entsprechenden Transformation der bestehenden Ausbildung.

Fazit

15) Using the law for good: Jurist*innen sollten mehr über Transformationsprozesse innerhalb des Rechts und der Rechtswissenschaft nachdenken und dadurch eigene Impulse zur gesellschaftlichen Debatte beitragen. Transformationsorientierte Rechtswissenschaft und -praxis muss das Recht als Mittel zur Problemlösung nutzen und formen, anstatt es als starres, blockiertes und zugleich blockierendes System misszuverstehen.

Dank

Einzelne Sätze des Beitrags wurden teilweise wörtlich durch Referent*innen, Teilnehmer*innen und Mitglieder des Organisationsteams eingebracht, ohne dass sie sich noch zuordnen lassen. Die Zusammenstellung und Gewichtung der Ergebnisse und alle damit einhergehenden Wertungen, Auslassungen, redaktionellen Änderungen und Ergänzungen sind notgedrungen durch die Verfasser*innen geprägt. Etwaige Fehler liegen in deren Verantwortung. Ein Dank geht an alle, die am Projekt „Transformationshoffnung Recht?“ mitgewirkt und damit diese Inhalte mitproduziert oder ermöglicht haben: Ulrike Jürschik, Caterina Kähler, Henrike Lindemann, Marvin Neubauer und Klara Podzuweit (in alphabethischer Nennung) haben das Wochenende ehrenamtlich initiiert, konzipiert, organisiert und durchgeführt. Für die gehaltvollen Vorträge, Workshops und einen Teil der für diesen Text verwendeten Thesen ist den Referierenden des Wochenendes zu danken (in Reihenfolge des Programms): Klara Stumpf, Gerd Winter, Ida Westphal, Jenny García Ruales, Andreas Gutmann, Arno Arpaci, Peter E. Donatus, Christopher Scheid, Véronique Schirrmeister, Katja Schubel und Johann Steudle. Sabine Schlacke und Wolfgang Köck sowie Timo Luthmann gebührt Dank für weitere Eindrücke, Ausblicke und Raum zum Erfahrungsaustausch während des Rahmenprogramms. Herzstück bildeten die ca. 25 Teilnehmenden, die mit ihren aktivistischen, wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen die Ergebnisse des Wochenendes geprägt haben. Videos mit ihrer Perspektive auf das Recht als Transformationshoffnung, die in Workshops durch Teilnehmende ausgewertet wurden, steuerten bei (in alphabetischer Nennung): Stefan Aykut, Daniel Eichhorn, Felix Ekardt, Isabel Feichtner, Fridays for Future (Rechtshilfe AG), Franziska Heß, Klaus Jacob, Amanda Luna Tacunan, das NABU Legal Team, Nadja Salzborn, Simon Schuster, Yoann Thiemann, Annette Elisabeth Töller, Roda Verheyen und Christina Voigt. Möglich wurde das Projekt „Transformationshoffnung Recht?“ institutionell durch die Trägerschaft und administrative Unterstützung des Green Legal Impact e. V. sowie finanziell durch die Förderung der Winterstiftung für Rechte der Natur, die Elektrizitätswerke Schönau und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ.

1 Die Teilnehmendengruppe des Wochenendseminars „Transformationshoffnung Recht?“ setzte sich überwiegend aus Menschen zusammen, die als weiße Akademiker*innen große Privilegien erfahren. Wir danken Peter Emorinken Donatus, Jenny Garcia Rualez und Amanda Luna dafür, dass sie als Referent*innen bzw. ihre Teilnahme an unserer Video-Aktion ihre Perspektiven mit uns geteilt haben.


Gemeinsame Erklärung - Klimaschutz statt Repression

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt auch im Umgang mit der “Letzten Generation”!

Mit dem Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ nach § 129 StGB fahren die Strafverfolgungsbehörden schweres Geschütz gegen gewaltfreien Klimaprotest auf, der mit der Einhaltung der Klimaschutzziele ein verfassungs- und völkerrechtlich legitimiertes Anliegen verfolgt. Angesichts der weitreichenden Grundrechtseingriffe, die durch diesen Vorwurf gerechtfertigt werden, halten wir die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Neuruppin nach § 129 StGB gegen Menschen aus der Bewegung „Letzte Generation“ für unverhältnismäßig.

Die strafrechtliche Verfolgung von Mitgliedern der Bewegung „Letzten Generation“ hat eine neue Qualität erreicht. Am vergangenen Dienstag, den 13.12., kam es zu elf Hausdurchsuchungen und der Beschlagnahmung von Handys, Laptops und Plakaten. Der Vorwurf lautet “Bildung einer kriminellen Vereinigung” gemäß § 129 Abs. 1 StGB, außerdem Störung öffentlicher Betriebe (§ 316b StGB), Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und Nötigung (§ 240 StGB). Medienberichten zufolge wurden Ermittlungen gegen insgesamt 34 Beschuldigte in acht Bundesländern eingeleitet, nachdem seit Mai bei mehreren Protestaktionen an der PCK-Raffinerie in Schwedt Ventile zugedreht und der Öl-Zufluss damit kurzzeitig unterbrochen worden sein soll. Zwei Wochen vor den Hausdurchsuchungen hatten mehrere Landesminister auf der Innenministerkonferenz Ermittlungen nach § 129 StGB gefordert.

Anfangsverdacht der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ bereits fraglich

Die Unterzeichnenden kritisieren dieses Vorgehen, denn bereits das Vorliegen des Anfangsverdachts bezüglich der Bildung einer kriminellen Vereinigung erscheint zweifelhaft. Der Tatbestand setzt voraus, dass eine Gruppe die Begehung von schweren Straftaten bezweckt, von denen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Das trifft auf das Festkleben an Straßen, Gemälden und Flughäfen als bislang wichtigster Protestform der „Letzten Generationen“ schon im Ansatz nicht zu. Ob Sitzblockaden und andere Formen des zivilen Ungehorsams überhaupt strafbares Verhalten darstellen ist fraglich – Gerichte und Staatsanwaltschaften haben die wertungsoffenen juristischen Fragen der Verwerflichkeit und eines rechtfertigenden Klimanotstandes zuletzt unterschiedlich beantwortet und Protestierende vereinzelt freigesprochen. Jedenfalls aber haben die mit den Sitzblockaden verbundenen Vorwürfe kein ausreichendes Gewicht, um Vorwürfe nach § 129 StGB begründen zu können.

Ähnlich sieht es bei dem Zudrehen von Ventilen an der Raffinerie in Schwedt aus. Weder wurden durch die kurzzeitige Unterbrechung der Versorgung einer Raffinerie Menschen gefährdet, noch die öffentliche Sicherheit in erheblichem Maße beeinträchtigt. Auch zu Sachbeschädigungen kam es nicht. Dass die Aktion möglicherweise den Anfangsverdacht einer Störung öffentlicher Betriebe begründet, kann für sich genommen die Ermittlungen nach § 129 StGB ebenso wenig rechtfertigen.

Motivation, Ziele und Kontext entscheidend

Gerade weil der Vorwurf nach § 129 StGB weitreichende Ermittlungsmaßnahmen ermöglicht, die mit schweren Grundrechtseingriffen verbunden sind, fordert auch der BGH die strikte Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Bewertung der Zwecke einer Vereinigung. Ob die Schwelle zu Seiten 2 von 2 einer kriminellen Vereinigung im Sinne der Vorschrift überschritten wird, ist nicht allein anhand der begangenen Straftaten, sondern anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände zu bewerten, die auch den Rahmen und den Hintergrund der Taten in den Blick nimmt – und gerade dieser könnte nicht deutlicher gegen die Annahme einer kriminellen Vereinigung sprechen:

Die „Letzte Generation“ weist mit ihrem Protest auf etwas hin, das auch Barack Obama und Annalena Baerbock genau so formuliert haben: Dass wir zu der letzten Generation gehören, die die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels noch stoppen kann. „Die nächsten acht Jahre sind entscheidend“, erkennt selbst Bundeskanzler Olaf Scholz. Trotzdem reichen weder global noch national die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen nicht aus, um die globalen Klimaziele sowie den in Deutschland verfassungsrechtlich vorgegebenen Reduktionspfad einzuhalten. Das wurde unlängst durch das Zweijahresgutachten des Expertenrates für Klimafragen bestätigt, der einen Paradigmenwechsel in der deutschen Klimaschutzpolitik anmahnt. Derweil hat der voranschreitende Klimawandel bereits in vielen Teilen der Erde verheerende Konsequenzen. Angesichts dieser Entwicklungen richtet sich die „Letzte Generation“ an die Politik. Die Bewegung fordern im Grunde nicht mehr, als die Einhaltung des Klimaschutzgesetzes und der völker- und verfassungsrechtlichen Pflicht, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5° C zu begrenzen. Die Proteste haben ein starkes kommunikatives Element und zielen auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung ab. Sie nehmen damit eine grundrechtlich garantierte Freiheit wahr, welche das Bundesverfassungsgericht als schlechthin konstitutiv für unsere Demokratie erachtet. Diese Umstände müssen die Ermittlungsbehörden bei der Bewertung des Verhältnisses von Straftaten und verfolgten Zwecken angemessen berücksichtigen.

Für die strafrechtliche Bewertung des Gesamtbildes ist außerdem entscheidend: Die Bewegung agiert nicht im Verborgenen, sondern trägt ihre Ziele und Methoden sowie die Identität der Beteiligten in die Öffentlichkeit. Dort wo die gewählten Protestformen des zivilen Ungehorsams die Grenzen zur Strafbarkeit überschritten haben, stellen sich bislang alle Aktiven den Strafverfahren. All das spricht entscheidend gegen die Annahme einer kriminellen Vereinigung.

Ermittlungsmaßnahmen müssen Verhältnismäßigkeit wahren

In jedem Fall erscheinen die Durchsuchungen und Beschlagnahmungen angesichts des gewaltfreien und öffentlichen Protests und der verfolgten Anliegen der Bewegung unverhältnismäßig. Die Mitglieder der „Letzten Generation“ haben bislang keinerlei Anstalten gemacht, ihre Taten zu verbergen und Ermittlungsmaßnahmen zu behindern.

Leider reihen sich die Ermittlungen in andere staatliche Maßnahmen gegen die „Letzte Generation“ ein, wie die wahrscheinlich verfassungswidrige Anordnung eines 30-tägigem Gewahrsams in Bayern. In ihrer Gesamtheit erwecken diese Maßnahmen den Eindruck einer Instrumentalisierung des Ordnungs- und Strafrechts für die Delegitimierung und Einschüchterung von unliebsamem Protest. Das ist eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig. Repression sollte nicht die Antwort des Staats auf eine Klimabewegung sein, die den Erhalt unser aller Lebensgrundlagen einfordert und an die Einhaltung von Gesetz und Recht erinnert.

Die Dringlichkeit des Problems erkennen!

Vor allem aber drohen die Diskussionen über strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen von der eigentlichen Problematik abzulenken. Die Verantwortlichen sollten sich mit dem Ruf der Protestierenden nach wirksamen Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe auseinandersetzen und endlich ihren verfassungsrechtlichen Pflichten nachkommen. Klimaschutz ist Menschenrecht, das haben Gerichte rund um die Welt bereits entschieden – und dieses Menschenrecht hat jeder Staat zu achten. Die Letzte Generation wählt drastische Mitte, um auf das bis heute andauernde, drastische Versagen der Klimaschutzpolitik hinzuweisen. Die Dringlichkeit der Klimakriese haben die meist jungen Betroffenen nicht zu verantworten.


Stellungnahme zur medialen Berichterstattung über Protest der „Letzten Generation“

Bedenkliche Angriffe auf die Versammlungsfreiheit

Die Klimaprotestbewegung „Letzte Generation“ steht in diesen Tagen besonders im Fokus der
öffentlichen Debatte und Berichterstattung. Die Angriffe, denen sich die Aktivist*innen sowohl von Seiten
der Politik, in den Sozialen Medien und auch von Seiten einiger Medien ausgesetzt sehen, stellen
zentralen Garantien unserer Verfassung in Frage und offenbaren ein gestörtes Verständnis von
Rechtsstaatlichkeit.

GLI verurteilt derartige Angriffe auf die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit und die
öffentlichen Debattenbeiträge, die im Gegensatz zu den friedlichen Demonstrant*innen, demokratiefeindliche Züge aufweisen.

1 Hintergrund

Ende Oktober 2022 wurde eine Radfahrerin auf der Bundesallee in Berlin von einem LKW überfahren.
Wenige Tage später erlag sie ihren schweren Verletzungen. Für mediale Aufregung sorgte der Umstand, dass ein Bergungsfahrzeug der Feuerwehr möglicherweise verzögert zur Unfallstelle gelangte, nachdem es auf der städtischen Autobahn (A 100) infolge einer Protestaktion von Aktivist*innen der “Letzten
Generation” zu Verkehrsbehinderungen gekommen war. Im Nachgang wurde in zahlreichen Medien den Aktivist*innen eine gewisse Mitverantwortung für den Tod der Frau zugeschrieben, und in den sozialen Netzwerken ergoss sich eine Welle von Hass und Hetze.
Politiker*innen sahen sich veranlasst, „ein hartes Durchgreifen der Polizei“ und eine „schnelle und
konsequente“ Strafverfolgung (Bundesinnenministerin Nancy Faeser) zu fordern und öffentlich über die
Möglichkeit von Haftstrafen für solche Protestformen nachzudenken (Bundesjustizminister Marco Buschmann). Am Wochenende legten Unionspolitiker*innen nach und kündigten einen Antrag im Bundestag an, mit dem eine Mindestfreiheitsstrafe für Straßenblockaden und präventive Gewahrsam gegen Klimaaktivist*innen eingeführt werden sollen.
Die „Letzte Generation“ veröffentlichte zwei Statements: Eines unmittelbar nach dem Unfall und eines in Reaktion auf die öffentliche Debatte zu dem Geschehen. An einem Mitverursachungsbeitrag der Protestaktion der „Letzten Generation“ und einer dadurch möglicherweise verzögerten Anfahrt des Bergungsfahrzeugs an dem Tod der Radfahrerin bestehen nach Berichten der Süddeutschen ohnehin erhebliche Zweifel. Unabhängig davon sieht GLI in der Art und Weise, wie die Debatte über die Protestaktion geführt wird, nicht in den Protesten als solche, eine Gefährdung verfassungsrechtlicher Garantien. Der öffentliche Diskurs über die Proteste der „Letzten Generation“ ist selbstverständlich legitim – eine kontroverse Debatte ist in der provokanten Protestform
bereits angelegt. Die Versammlungsfreiheit unseres Grundgesetzes schützt aber auch unliebsamen Protest.

2 Das Grundgesetz schützt störenden Protest

Die Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz (GG) stellt einen Eckpfeiler der demokratischen
Grundordnung dar, der von der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG erfasst wird. Nicht umsonst
betont das Bundesverfassungsgericht unerlässlich: „Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist
die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend“ (BVerfG,
Beschl. v. 17. April 2020, 1 BvQ 37/20, Rn. 20).
Dabei schützt die Versammlungsfreiheit gerade auch das Recht, alltägliche Abläufe und Verhaltensweisen zu stören, zu behindern, anzuecken oder zu „nerven“, um damit auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen. Darüber hinaus gewährleistet Artikel 8 GG nicht nur die freie Wahl
des Ortes (und damit den Protest auf öffentlichen Straßenflächen), sondern auch die Form des Protestes. Folglich unterfallen Sitzblockaden auf Straßen und das Ankleben ebenso dem Schutzbereich, wie es herkömmliche Demonstrationszüge und Kundgebungen tun. Dass damit regelmäßig eine Störung für den Verkehr, Arbeits- und Betriebsabläufe einhergehen, nimmt das Grundgesetz zugunsten eines öffentlichen Meinungskampfes und demokratischen Diskurses bewusst in Kauf. Deshalb dürfen jährlich Traktor-Kolonnen durch Innenstädte rollen, Fahrrad-Demonstrationen auf Autobahnen stattfinden, darf in Flughäfen und Einkaufszentren demonstriert werden und – ungeachtet eines zu missbilligenden Inhalts – eben auch Corona-Leugner*innen oder Pegida-Demonstrationen durch die Straßen
ziehen. Die gleichen Grundsätze gelten auch für Proteste von Klimaaktivist*innen, die sich auf Straßenflächen und -brücken festkleben. Daher offenbart es ein zutiefst antidemokratisches Bewusstsein, wenn Zeitungen andeuten, dass doch eher gegen Demonstrierende vorgegangen werden solle, statt gegen deren berichtigtes Anliegen – nämlich den Schutz des Klimas.
Jede Form von Versammlung auf öffentlichem Grund birgt das abstrakte Risiko, Einsatzfahrzeuge zu behindern und dadurch Anfahrtswege potenziell zu erschweren. Den Verkehr behindern auch regelmäßig Veranstaltungen ohne politischen Anlass, wie Laufveranstaltungen, Radrennen oder Volksfeste. Dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, ist dabei zuvorderst die Aufgabe der
Versammlungs- bzw. Ordnungsbehörden. Bei Spontanversammlungen und Protestformen des zivilen
Ungehorsams tragen – angesichts der eingeschränkten Vorbereitungsmöglichkeiten – auch die Aktivist*innen eine besondere Verantwortung, im Rahmen des ihnen Möglichen, Gefährdungen für sich und unbeteiligte Dritte auszuschließen. Die „Letzte Generation“ hat dies nach eigenen Angaben stets versucht. Gänzlich ausschließen lässt sich ein Restrisiko indes nicht, bei keiner Versammlungsform.
Unsere Verfassung erkennt dieses abstrakte Risiko an – und nimmt es bewusst in Kauf. Das Anliegen der Demonstrierenden ist – soweit nicht gegen die verfassungsmäßige Grundordnung gerichtet – dabei
rechtlich schlicht irrelevant.
Demonstrationen auf und über Autobahnen unterfallen – auch nach der Rechtsprechung des BVerfG – dem Schutzbereich von Artikel 8 GG. Aus diesem Grund dürfte auch ein pauschales Verbot von Versammlungen auf Autobahnen nicht mit der Verfassung vereinbar sein.

3 Strafverfolgung durch unabhängige Justiz

Richtig ist: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gilt nicht schrankenlos und kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit vor unmittelbaren Gefahren eingeschränkt werden. Überall dort, wo der Protest selbst oder das Verhalten einzelner Teilnehmenden die Grenzen zur Strafbarkeit überschreiten, setzt die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden zu entsprechenden Ermittlungen ein. Bislang haben sich die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ den strafrechtlichen Konsequenzen ihres Verhaltens kompromisslos gestellt und einige von ihnen wurden bereits wegen Nötigung (§ 240 StGB) verurteilt.
Rufe nach „konsequenter“ Verfolgung und einem „harten Durchgreifen“ durch eine Innenministerin und Vorschläge zur Strafzumessung von einem Justizminister sind systemwidrig. Sie erwecken gerade den Eindruck, dass manche Versammlungsformen eben unabhängig von der Einzelfallprüfung durch Gerichte politisch geahndet werden sollen. Solche Äußerungen sind aber mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Unabhängigkeit der Justiz schwer vereinbar.

4 Debatte lenkt von der verkehrs- und klimapolitischen Realität ab

Spekulationen über eine mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit der Aktivist*innen für den Tod der
Radfahrerin sind ebenso wie Vorschläge zur Verschärfung des Strafrechts nicht nur voreilig, weil an einer Mitursächlichkeit der Proteste nach Aussagen der Rettungskräfte erhebliche Zweifel bestehen. Sie sind auch irritierend, weil in vergleichbaren Situationen bislang keine dahingehende öffentliche Debatte – geschweige denn von so vielen Politiker*innen und Amtsträger*innen – über mögliche strafrechtliche Konsequenzen geführt wird. Weder die fatalen Konsequenzen durch Versäumnisse beim Bilden von Rettungsgassen auf Autobahnen, noch Behinderungen von Rettungskräften durch ordnungswidrig parkende Fahrzeuge vermochten bislang entsprechende Diskussionen auszulösen. Noch weniger
fühlten sich bisher Unionspolitiker*innen dadurch veranlasst, Verschärfungen bei der Ahndung von
Falschparkenden zu fordern.
Vor allem aber lenkt die Debatte auf groteske Weise von dem eigentlichen Problem ab: Die Gefahren für
Radfahrende im Straßenverkehr und ihre noch immer fehlende Berücksichtigung in der Verkehrsplanung. 2021 starben allein in Berlin zehn Fahrradfahrer*innen im Verkehr, sechs davon wurden von LKWs überrollt. Der jüngste tödliche Verkehrsunfall auf der Bundesallee war bereits der achte dieser Art in diesem Jahr – und blieb tragischerweise auch nicht der letzte. Hier besteht
tatsächlich dringender politischer Handlungsbedarf.
Die Protestierenden nehmen – unter hohen persönlichen Risiken – strafrechtliche Konsequenzen in Kauf, um auf die dramatische klimapolitische Realität hinzuweisen. Am selben Tag, an dem die öffentliche Debatte endgültig ausuferte, warnten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der Leiter des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Johann Rockström, auf einer
Pressekonferenz eindringlich vor den erheblichen Gesundheitsgefahren und tausenden vorzeitigen
Todesfällen durch den Klimawandel. Und nur einen Tag später stellt der Expert*innenrat für Klimafragen in
seinem veröffentlichten Gutachten klar, dass Deutschland weit davon entfernt ist, seine verfassungs- und
freiheitsrechtlich determinierten Klimaschutzziele zu erreichen. Solange derartige Meldungen weitgehend ungehört verhallen, wird die Radikalität der Realität auch künftig Menschen dazu bewegen, störende Protestformen zu wählen. Das ist kein Zeichen antidemokratischer Gesinnung, sondern der steigenden Gefahr, die Menschen in Deutschland und anderswo (zu Recht) im Klimawandel sehen.


Generalanwalt stärkt Verbandsklagerechte

Generalanwalt Rantos: Anerkannte Umweltvereinigungen müssen eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge, die mit möglicherweise verbotenen „Abschalteinrichtungen“ ausgestattet sind, vor Gericht anfechten können

In dem Vorabentscheidungsersuchen geht es unter anderem um die Frage, gegen welche Entscheidungen Umweltverbände klagen können. Hintergrund sind die Regelungen der Aarhus-Konvention (AK) und deren Umsetzung im deutschen Recht. Die Deutsche Umwelthilfe e.V. klagte vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht gegen eine Entscheidung der zuständigen Behörde über die EG-Typengenehmigung für Fahrzeuge der Volkswagen AG. Mit dieser Entscheidung wurde für Fahrzeuge mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software genehmigt. Diese Software reduziert bei bestimmten äußeren Temperaturen die Abgasrückführung, was eine Erhöhung der Stickoxidemissionen zur Folge hat. Die Deutsche Umwelthilfe macht geltend, dass es sich bei dieser Software um eine rechtswidrige „Abschalteinrichtung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handele.

Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vertritt die Ansicht, dass der Deutschen Umwelthilfe nach nationalem Recht die Klagebefugnis zur Anfechtung dieser Entscheidung fehle. Seine erste Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof lautet daher, ob Art. 9 Abs. 3 AK in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verlangt, dass eine anerkannte Umweltvereinigung eine Verwaltungsentscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, im Hinblick auf Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 vor den nationalen Gerichten anfechten kann.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs können für Rechtsbehelfe gemäß Art. 9 Abs. 3 AK „Kriterien“ festgelegt werden. Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des ihnen insoweit überlassenen Gestaltungsspielraums verfahrensrechtliche Vorschriften über die Voraussetzungen der Einlegung solcher Rechtsbehelfe erlassen können.

Der deutsche Gesetzgeber hat das getan. § 1 Abs. 1 S. 1 UmwRG enthält eine Liste von Entscheidungen, gegen die anerkannte Umweltvereinigungen Rechtsbehelfe einlegen können. Produktzulassungen, wie die Verwaltungsentscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung erteilt wird, sind nicht Bestandteil dieser Liste. Bei der Novellierung im Jahr 2017, mit der das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz an europarechtliche und völkerrechtliche Vorgaben angepasst werden sollte, hat sich der deutsche Gesetzgeber bewusst für diesen Listenansatz und gegen eine Generalklausel entschieden. Rechtswissenschaftler*innen und Umweltvereinigungen bezweifeln jedoch, dass diese Beschränkung der Rechtsbehelfe von anerkannten Umweltvereinigungen mit den Vorgaben der Aarhus-Konvention und dem Unionsrecht vereinbar ist.

Generalanwalt Athanasios Rantos empfiehlt dem Gerichtshof in seinen Schlussanträgen nun, die Frage nach der Klagebefugnis der Deutschen Umwelthilfe zu bejahen. Seiner Auffassung nach muss eine anerkannte Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, die möglicherweise gegen das Verbot von Abschalteinrichtungen verstößt, vor einem innerstaatlichen Gericht anfechten können. Er stellt auch klar: „Soweit sie Umweltorganisationen eine Anfechtung einer solchen Zulassungsentscheidung gänzlich verwehren, genügen die betreffenden nationalen Verfahrensvorschriften nicht den Anforderungen des Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta.“  Das bedeutet, das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz muss in diesem Punkt überarbeitet werden.

Denn die Aarhus-Konvention verpflichtet in Verbindung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union die EU-Mitgliedstaaten dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Umweltrecht der Union garantierten Rechte zu gewährleisten.

Das sieht auch Remo Klinger so, der die Deutsche Umwelthilfe in dem Verfahren als Rechtsanwalt vertritt und Mitglied bei Green Legal Impact ist: „Artikel 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention berechtigt Umweltverbände, jeden Umweltrechtsverstoß vor Gericht zu bringen. Die deutsche Rosinenpickerei, nach der nur bestimmte Rechtsverstöße gerügt werden können, ist damit unvereinbar. Dass man schon gar nicht alle Umweltrechtsverstöße, die bei der Genehmigung von Autos begangen werden, von einer gerichtlichen Überprüfung ausschließen darf, hat der Generalanwalt eindrucksvoll bestätigt.

Die Schlussanträge des Generalanwalts stellen einen Entscheidungsvorschlag dar und sind für den Gerichtshof nicht bindend. Eine abschließende Entscheidung hat der Gerichtshof noch nicht getroffen.

Links

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs

Schlussanträge des Generalanwaltes Athanasios Rantos vom 3. März 2022, Rechtssache C‑873/19 ECLI:EU:C:2022:156


21.06.2021: Unser Vorstandsmitglied Roda Verheyen sprach mit anderen Expert*innen zu dem bahnbrechenden Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 24.03.2021 und zur daraus folgenden Anpassung des Klimaschutzgesetzes.

Aufzeichnung ansehen …

Shell von Niederländischem Gericht verurteilt

Das Bezirksgericht Den Haag ordnet an, dass Royal Dutch Shell (RDS) seine CO2-Emissionen bis Ende 2030 auf netto 45% gegenüber dem Niveau von 2019 durch die Konzernpolitik des Shell-Konzerns reduzieren muss.

Presserichterin Jeannette Honée erläutert das Urteil

Die Antragsteller und ihre Forderungen

Diese Verfügung erging in einem Verfahren, das von sieben Stiftungen und Verbänden sowie über 17.000 Einzelklägern angestrengt wurde. Den Klägern zufolge tut RDS als politischer Kopf des Shell-Konzerns nicht genug, handelt rechtswidrig und muss mehr tun, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Die Kläger forderten, dass die CO2-Emissionen bis 2030 um 45 %, alternativ 35 % oder 25 %, gegenüber dem Stand von 2019 reduziert werden müssen. Die Klagen betreffen die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns selbst, aber auch die seiner Lieferanten und Kunden.

Shell verpflichtet zur CO2-Reduzierung

Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass RDS verpflichtet ist, für die CO2-Reduzierung des Shell-Konzerns, seiner Lieferanten und Kunden zu sorgen. Dies ergibt sich aus dem für RDS geltenden ungeschriebenen Sorgfaltsmaßstab, den das Gericht auf der Grundlage des Sachverhalts, weit verbreiteter Erkenntnisse und international anerkannter Standards interpretiert hat.

Die Shell-Gruppe ist einer der größten Produzenten und Lieferanten von fossilen Brennstoffen weltweit. Die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns, seiner Lieferanten und Kunden übersteigen die vieler Länder. Dies trägt zur globalen Erwärmung bei, die zu einem gefährlichen Klimawandel führt und ernsthafte Risiken für die Menschenrechte, wie das Recht auf Leben und ungestörtes Familienleben, birgt. Es ist allgemein anerkannt, dass Unternehmen die Menschenrechte respektieren sollten. Dies ist eine eigenständige Verantwortung der Unternehmen, unabhängig davon, was die Staaten tun. Diese Verantwortung erstreckt sich auch auf Lieferanten und Kunden. RDS hat eine Ergebnisverpflichtung in Bezug auf die CO2-Emissionen der Shell-Gruppe selbst. Gegenüber Lieferanten und Kunden besteht eine gewichtige Anstrengungsverpflichtung, d.h. RDS muss seinen Einfluss über die Konzernpolitik der Shell-Gruppe geltend machen, indem z.B. über die Einkaufspolitik Anforderungen an Lieferanten gestellt werden. RDS hat völlige Freiheit, die Reduktionsverpflichtung nach eigenem Ermessen zu erfüllen und die Konzernpolitik der Shell-Gruppe zu gestalten. Die Opfer, die dies erfordert, überwiegen nicht das Interesse an der Bekämpfung des gefährlichen Klimawandels.

Drohende Verletzung der Reduktionspflicht

Das Gericht stellt nicht fest, dass RDS bereits gegen diese Verpflichtung verstößt, wie die Kläger argumentieren. RDS hat die Politik der Shell-Gruppe verschärft und ist dabei, sie auszuarbeiten. Da die Politik nicht konkret ist, viele Vorbehalte hat und sich darauf stützt, gesellschaftlichen Entwicklungen zu folgen, anstatt selbst für eine CO2-Reduktion zu sorgen, sieht das Gericht einen drohenden Verstoß gegen die Reduktionspflicht in der Zukunft. Das Gericht verpflichtete RDS daher, die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns, seiner Lieferanten und Kunden bis Ende 2030 auf netto 45% gegenüber dem Stand von 2019 zu reduzieren.

Urteil in englischer Sprache

ECLI:NL:RBDHA:2021:5337

Zum Weiterhören

Hören Sie hierzu auch ein Interview mit GLI-Vorstandsmitglied Roda Verheyen im Deutschlandfunk vom 27.02.2021 („Deutschlandfunk – Der Tag“, ab Minute 18).


Verbändebriefe zur Revision der Aarhus-Verordnung (Verordnung 1367/2006)

Bei der Abstimmung im Umweltausschuss Mitte April 2021 steht viel auf dem Spiel – auch wenn es bei den prozessrechtlichen Themen vielleicht nicht immer auf der Hand liegt. Hier geht es um die Handlungsmöglichkeiten der Verbände, um die Umsetzung der Umweltgesetze – und um Rechtsstaatlichkeit.

Die EU kann nur dann für sich in Anspruch nehmen, einen hohen Umweltschutzstandard zu gewährleisten, wenn dieser auch tatsächlich umgesetzt wird und nicht nur auf dem Papier steht. Dafür brauchen wir auch eine Überprüfbarkeit der Umsetzung vor Gericht durch Verbände und Einzelpersonen. Die Aarhus-Konvention von 1998 schreibt dies eindeutig vor. Die EU hat aber den Zugang zu Gerichten bislang nicht befriedigend umgesetzt – obwohl sie seit 2005 Vertragspartei der Konvention ist und obwohl sie ihre eigenen Mitgliedsstaaten ihrerseits oft daran erinnert. Das unabhängige Aarhus-Komitee hat in ACCC/C/2008/32 (Teil II) bestätigt, dass die EU den internationalen Vertrag verletzt – seitdem wurde das EU-Recht aber nicht angepasst.

GLI hat daher gemeinsame Briefe der großen deutschen Umweltverbände initiiert und an die EU-Parlamentarier und die Bundesumweltministerin versandt.

Links

Brief an die Mitglieder des Umweltausschusses des EU-Parlaments

Brief an die deutsche Bundesumweltministerin – und ihre Antwort


Verbändeappell zum Klimaschutzgesetz

16. März 2021: Wir fordern die Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen – zusammen mit der Klima-Allianz und einem großen Bündnis.

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