Transformationshoffnung Recht? – Resümee eines Wochenendseminars
Ulrike Jürschik, Caterina Kähler, Henrike Lindemann, Marvin Neubauer und Klara Podzuweit im Nachgang zum Wochenendseminar „Transformationshoffnung Recht?“
Ob Klimawandel, gesellschaftliche Polarisierung, Biodiversitätsverlust oder die zunehmende Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch Pandemien: Multiple soziale und ökologische Krisen der Gegenwart machen deutlich, dass ein „Weiter-wie-bisher“ an vielen Stellen keine Option ist. Tiefgreifende Wandlungsprozesse in der Art des Wirtschaftens, in unseren alltäglichen Routinen, im gesellschaftlichen Naturverhältnis und Weiterem – sprich: sozial-ökologische Transformationen – sind notwendig. Trotz zunehmender Proteste, Streiks und anderer aktivistischer Formate kommt der gesellschaftliche Wandel zu langsam voran. Die strukturelle Nicht-Nachhaltigkeit der Externalisierungsgesellschaft erfordert es, den Blick für die (Gestaltungs-)Möglichkeiten und Barrieren sozialen Wandels zu schärfen. Veränderungen werden kommen – es stellt sich nur die Frage, ob sie by design oder by disaster geschehen.
In den letzten Jahren ist, zum Beispiel im Rahmen von Klimaklagen, zunehmend das Recht als „Transformationshoffnung“ in Erscheinung getreten. Inwiefern ist diese Hoffnung berechtigt? Und was bedeutet diese neue gesellschaftliche Rolle des Rechts für Rechtswissenschaft und -praxis? Das Wochenendseminar „Transformationshoffnung Recht?“, das vom 28. bis 31.10.2022 auf dem Flensunger Hof in Mücke/Hessen stattfand, brachte einige Ergebnisse und Thesen zur Rolle des Rechts und von Jurist*innen in sozial-ökologischen Transformationsprozessen hervor. Diese sind für den folgenden Text in eine Ordnung gebracht worden. Die folgenden Ausführungen bilden damit also keine Eigenleistung der Verfasser*innen, sondern die Sicherung der Leistung der Seminargruppe.
Sozial-ökologische Transformationen – zur Einführung
1) Kein Wandel im Handeln ohne einen Wandel im Denken: Eine sozial-ökologische Transformation lässt sich nicht hierarchisch vollziehen. Maßgeblich ist der Rückhalt und die Legitimation der Menschen, die eine entsprechende Zukunftsvision stützen. Dabei sind sich vielfältige Hindernisse für Transformationsprozesse vor Augen zu führen. Pfadabhängigkeiten, die Transformationsprozesse hindern, entstammen nicht nur materiellen Infrastrukturen, wie dem Straßennetz, sondern auch mentalen Infrastrukturen, etwa der Bedeutung von nichtnachhaltigem Konsum für die alltägliche Lebensgestaltung. Für die Veränderung von mentalen Infrastrukturen braucht es Reflexion auf individueller sowie gesellschaftlicher Ebene. Die Diskurse um die Klimakrise und deren Lösungen sind zudem durchzogen von Machtverhältnissen. Sie sind somit alles andere als apolitisch oder rein wissenschaftlich zu beantworten.
Transformation ist ohne den Wandel in der Gesellschaft verankerter Ideologien und Werte nicht zu haben. Visionen können hier große Kraft entfalten und sind wichtig, um der Transformation eine Richtung zu geben und Hindernisse zu überwinden.
2) Mehr als Ökologie – Über das Zusammendenken verschiedener Transformationsprozesse: Es muss eine gute, gerechte, soziale, feministische, antirassistische alternative Lebensform angeboten werden, um die derzeitige kapitalistische und zerstörerische Gesellschaftsform zu transformieren. Es ist erforderlich verschiedene transformative Bewegungen, etwa die Umweltbewegung, Bewegungen des Antikolonialismus, des Feminismus, der sozialen Gerechtigkeit, im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation zusammenzudenken und zu verknüpfen. So müssen u. a. die kolonialen Rohstoffabhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen aufgebrochen werden, um die Defossilisierung der Erde zu erreichen. Ansonsten droht Klimaschutz ein weißes Prestige-Projekt zu bleiben und zu scheitern. Auch Jurist*innen in Deutschland müssen sich mit der „MAAFA“ auseinandersetzen (Swahili: „große Tragödie“ – Überbegriff für die Verbrechen, die den Menschen auf dem afrikanischen Kontinent von Nicht-Afrikaner*innen zugefügt wurden, wie Versklavung, Kolonialisierung, Genozide, Ökozide, Neo-Kolonialismus, Nazismus, Rassismus). Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit fordert ein Handeln nach dem Leitbild Care & Repair. Dieses beinhaltet die Anerkennung und Aufarbeitung der MAAFA (inkl. offizieller Entschuldigungen), Kompensation/Reparation (durch finanzielle Entschädigungen, z.B. Landrückgabe), Garantien der Nichtwiederholung (durch Gesetzesinitiativen, z.B. Ökozidgesetz) und Transformation als Schritte in eine postkoloniale Zukunft. 1
3) Eine andere Welt muss erstritten werden: Sozial-ökologische Transformationen verlangen den fundamentalen Umbau vieler Sektoren. Konflikte und Machtverschiebungen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sozialer Wandel spielt sich zwischen Beharrungskräften, langfristigem Wandel und Kipppunkten ab. Er ist weder deterministisch noch voluntaristisch, d. h. er läuft weder allein nach vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten ab, noch richtet er sich ausschließlich nach dem Willen der beteiligten Personen. Sozial-ökologische Transformation gelingt nicht nur dadurch, dass wir alle sie uns wünschen. Es braucht eine Analyse der gesellschaftlichen Konflikte und zentralen Akteure, Systeme und Dynamiken, die Beharrungskräfte entfalten. Werden sie nicht hinreichend beachtet oder gar verschleiert, lässt sich kein Wandel erreichen.
4) Wo Wandel entsteht: Viele Transformationstheorien beschreiben, dass das gesellschaftlich „Neue“ in den Zwischenräumen der herrschenden Ordnung wächst. In geschützten Räumen können neue (mentale) Infrastrukturen und soziale Praxen entstehen. Wird die herrschende Ordnung durch äußere Faktoren erschüttert, bekommen diese Nischenakteure und alternativen Praxen die Chance, als „soziale Innovationen“ zu wirken, Teile der Ordnung zu ersetzen und diese so zu verbessern. Häufig setzen Transformationsstrategien deshalb auf die Veränderungskeime an den gesellschaftlichen Rändern, in den Rissen und Nischen.
5) Die zwei Rollen sozialer Bewegungen: Es gibt mindestens zwei Arten, wie soziale Bewegungen an der Transformation mitwirken können. Sie können politisch-aktivistisch tätig sein und dadurch – als sog. „Landscape“ des politischen Systems – das Regime stören und Räume für Veränderung öffnen. Oder sie können in Nischen neue soziale Formen des Lebens und Wirtschaftens entwickeln und erproben, welche dann ins Regime Eingang finden können, sobald dieses durch äußere Krisen erschüttert oder politisch aufgebrochen wird. Beide Tätigkeitsformen und Typen von sozialen Bewegungen sind auf die je andere angewiesen und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Entsprechend sind Allianzen von handlungswilligen Akteuren zu initiieren und zu fördern.
6) Nachhaltigkeitstransformation global denken: Transformation darf nicht nur zum Nutzen einiger weniger Staaten sein und dabei auf Kosten von Menschen in anderen Ländern gehen. Die Transformationsdiskurse, die in den Ländern des Globalen Nordens geführt werden, finden jedoch aufgrund vorherrschender globaler Machtstrukturen vorwiegend unter Ausschluss von Menschen des Globalen Südens statt. Ohne die Stimmen und Perspektiven des Globalen Südens sind die Lösungsansätze, die im Globalen Norden entwickelt werden, häufig nicht nur überwiegend im Interesse des Globalen Nordens, sondern beruhen oftmals auf der Nutzung und der Verfestigung neokolonialer Diskriminierungs- und Ausbeutungsstrukturen. Um der fortschreitenden Verhärtung dieser postkolonialen Strukturen entgegenzuwirken und eine global gerechte Transformation zu gestalten, ist es nötig, dass Akteur*innen aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden zusammenarbeiten. Rechts- und Lebensformen aus anderen Teilen der Welt können Anlass und Vorbild sein, unsere mentalen Infrastrukturen zu verändern. Gleichzeitig ist anzuerkennen, dass eine gleichberechtigte wechselseitige Beeinflussung von Akteur*innen des Globalen Südens und des Globalen Nordens vor dem Hintergrund der derzeit vorherrschenden Machtasymmetrie unmöglich ist.
Recht transformativ denken – Recht transformativ nutzen
7) Wir brauchen jedes Rechtsgebiet: Der Pluralismus der Transformationsmodelle geht einher mit einem Pluralismus der „Hebelpunkte“ und transformativen Praxen – auch im Recht. Hebel bestehen in allen ‚klassischen‘ juristischen Feldern der Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichte. Sozial-ökologische Transformation ist ein Thema für alle Rechtsbereiche – im Privatrecht, im Strafrecht und im Öffentlichen Recht. Sei es die Entwicklung eines transformativen Wirtschaftsrechts oder die Einbeziehung des Arbeitskampfes in sozial-ökologische Kämpfe. Bestehendes Recht muss hinterfragt werden und neu gedacht werden. Wo verhindert Recht Transformation? Wo ermöglicht es Transformation? Was kann Recht für uns tun?
8) Recht als Problem, Recht als Lösung: Recht ist nicht nur Vehikel der Transformation, sondern auch eine Ursache der Krise, aus der ‚heraustransformiert‘ werden soll. Zur Initiierung und Dynamik der Triebkräfte des Wachstums hat ‚freisetzendes‘ Recht beigetragen. Die dadurch verursachten Umweltschäden sind durch das bisherige Umweltrecht nicht ausreichend verhindert worden. Transformatives Recht könnte als „Biosphärenrecht“ konzipiert werden. Es umfasst dann ein reformiertes Umweltrecht, ein Recht der stationären Wirtschaft und eine verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Biosphäre. Gelingt es nicht, ein Recht zu etablieren, das die Biosphäre als Lebensgrundlage erhält, wird – ob gewollt oder nicht – nicht viel verbleiben, als das Recht zu einem Notstandsregime zu entwickeln, das knappe Ressourcen zuteilt.
9) Recht als Ausdruck von Machtverhältnissen: Recht ist eine verbindliche Konkretisierung der Politik und damit auch „Sprache der Macht“. Das Recht ist ein Mittel zur Machtausübung – bestehende Machtstrukturen sind ihm inhärent. Recht bildet Machtverhältnisse ab und reproduziert bzw. verstärkt sie. Deshalb stabilisiert es bestehende Machtverhältnisse, kann aber auch ein Instrument „transformationsorientierter“ Politik sein, wenn es diese Machtverhältnisse aufbricht. Mit Blick auf Aktivismus kann Recht beispielsweise Repressionsinstrument, Repressionsabwehrinstrument und ein Instrument für aktivistische Störungen des Regimes sein. Wir kommen als Jurist*innen vielleicht nicht unmittelbar an die in der Gesellschaft vorherrschenden Ideologien heran. Wir können als Jurist*innen aber Ideologien im Recht aufdecken und damit angreifbar machen.
10) Recht gut im Gespräch: Transformationsprozesse gehen mit erheblichen Konflikten zwischen gesellschaftlichen Gruppen einher: Das Recht ist ein Instrument zur Konfliktaustragung und Konfliktordnung. Jurist*innen haben die Aufgabe, das Recht für alle Akteursgruppen innerhalb von Transformationsprozessen zugänglich und nachvollziehbar zu machen. Recht eröffnet eine eigene Ebene kommunikativer Gestaltungsspielräume. Juristische Denkweisen können dazu beitragen, komplexe Probleme nüchtern und klar zu ordnen und Abwägungsvorschläge zu formulieren. Recht kann also nur transformierend wirken, wenn es in Dialog mit seinem Umfeld tritt.
11) Strategisch klagen: Klagen können zur Zielsetzung und -schärfung der Transformation beitragen. Strategische Prozessführung hat die Funktion, Lücken und Problemfelder im Regime aufzuzeigen. Jurist*:innen sollen durch Klagen den Vollzug klarer rechtlicher Standards einfordern (bspw. Grenzen für Luftreinheit). Bei unklaren Standards können Jurist*:innen zur Konkretisierung beitragen. Strategische Prozessführung und damit auch Klimaklagen haben erhöhte Erfolgschancen, wenn die Kläger*innen und beteiligten Jurist*innen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und sozialen Bewegungen zusammenarbeiten und verschiedene Säulen staatlicher Gewalt zugleich einbezogen oder angegriffen werden. Es kann dabei helfen, das Anliegen in den Rahmen der Verfassung einzuordnen und Rechtsmittel mit anderen politischen Ansätzen (z.B. Protestformen sozialer Bewegung) zu verknüpfen. Klimaklagen sind dennoch eher als „Schubs“ zu verstehen, nicht als Weltrettung. Es ist deshalb auch die Verantwortung der Jurist*innen, die Hoffnungen, die die Öffentlichkeit in Klimaklagen, Gerichte und aktivistische Anwält*innen setzt, am Maßstab der tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen des Rechts als Transformationsmechanismus zu messen und ggf. öffentlichkeitswirksam zu dämpfen. Klagen sind aber essentiell, um die „Must-Dos“ einer Transformation einzufordern: Vollzug des Umweltrechts, Schaffung neuer Rechtsinstitute sowie verfassungsrechtliche Aufwertung von Umwelt- und Naturschutz.
12) Transformationshoffnungen im Recht – mehr als Strategische Prozessführung: Es bestehen zahlreiche, über strategische Klagen hinausgehende, transformative Ideen für das Recht und konkrete Möglichkeiten, das Recht transformativ zu nutzen. Funktionen des Rechts für die Transformation können auch sein, Räume für Experimente zu öffnen, Akteur*innen zu befähigen und Richtungen vorzugeben. Recht kann empowern, wenn es ein Gestaltungsmittel ist, das für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zugänglich wird. In interdisziplinären Prozessen können Jurist*innen in Zusammenarbeit mit praktischen Initiativen schnell Wirkung entfalten, etwa in transformativen Law Clinics, Reallaboren für Commons oder Co-City-Projekten. Recht kann entsprechende Nischen schaffen und schützen (z. B. durch Haftungsfreistellung, Abweichungen von Standards). Haben Nischenakteure in rechtlichen Freiräumen neue soziale Praxen ausgehandelt und erprobt, sollten Jurist*innen von ihnen lernen, um das Recht transformativ weiterzuentwickeln – anstatt solche Reallabore für unmöglich zu erklären, in bestehende Rahmen zu zwingen oder als nicht regulierbaren, rechtsfreien Raum zu diskreditieren. Als Transformationshoffnung diskutiert werden Eigenrechte der Natur, die bisher überwiegend in Ländern des globalen Südens eingeführt wurden. Es handelt sich um eine hybride Rechtsentwicklung, bei der ein Rechtsinstitut aus dem globalen Norden (subjektive Rechte) für die Umsetzung indigener Weltsichten aus dem globalen Süden in dortige Rechtssysteme genutzt wird. Eigenrechte der Natur haben zwar nur ein begrenztes Potenzial für Transformationen, wenn sie in einer Abwägung mit derzeit bestehenden menschlichen Interessen an schädlichen Formen des Naturverbrauchs stehen, die höher gewichtet zu werden drohen. Dennoch bieten sie für unsere Mitwelt emanzipatorische Kraft. Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet etwa eine sozial-ökologische Nutzung bestehenden Rechts, etwa des Sozialisierungsinstruments gem. Art. 15 GG, dessen Anwendung juristischer Vorbereitung bedarf. Transformationspotenzial besteht auch bei der Gestaltung und Anwendung von Recht. Dazu braucht es Beteiligungsrechte in Rechtssetzung und Rechtsanwendung, einen lernenden Gesetzgeber (z.B. durch Evaluation), um fehlerfreundlich zu sein und Trägheit zu überwinden, sowie agile, fehlerfreundliche und nutzer*innenorientierte Verwaltungsstrukturen.
Von einer Transformationstheorie über das Recht zu einer Transformation der Rechtswissenschaft und der Jurist*innen selbst
13) Für die Transformation braucht es Rechtswissenschaftler*innen, die diese Demokratie neu denken: Die Transformation des Rechts ist abhängig von der Transformation der Gesellschaft. Das Recht ist nicht getrennt von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu betrachten. So müssen etwa soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zusammen verhandelt werden, beide bedingen sich. Die Transformation des Rechts muss deshalb die Transformation der Gesellschaft mitdenken und miteinbeziehen. Zugleich sind Jurist*innen aber auch ein Teil der Gesellschaft. Sie können sie mitgestalten. Es braucht eine rechtswissenschaftliche Transformations- wie transformative Forschung, die sich in rechtswissenschaftliche wie gesellschaftliche Diskurse einschaltet.
14) Für eine Selbstreflexion der Jurist*innen: Für die Transformation der Gesellschaft braucht es eine Transformation der Rechtswissenschaft: Ein Aufdecken und anschließendes Aufbrechen der im Recht reproduzierten Machtstrukturen. Eine inklusive Sprache, Strukturen und Plattformen, die Stimmen Raum geben, die bisher wenig oder gar nicht gehört wurden, und die Demut, dass auch Jurist*innen nur Teil des großen Ganzen sind. Dabei ist es essentiell, die eigene Positionierung (z.B. als weiße*r Akademiker*in) zu hinterfragen. Wer wird im Recht repräsentiert, wer gehört und wer überhört? Wie kann ein neues Rechtsbewusstsein aussehen, das Recht als gemeinschaftliches Gestaltungsinstrument versteht? Dafür bedarf es auch einer entsprechenden Transformation der bestehenden Ausbildung.
Fazit
15) Using the law for good: Jurist*innen sollten mehr über Transformationsprozesse innerhalb des Rechts und der Rechtswissenschaft nachdenken und dadurch eigene Impulse zur gesellschaftlichen Debatte beitragen. Transformationsorientierte Rechtswissenschaft und -praxis muss das Recht als Mittel zur Problemlösung nutzen und formen, anstatt es als starres, blockiertes und zugleich blockierendes System misszuverstehen.
Dank
Einzelne Sätze des Beitrags wurden teilweise wörtlich durch Referent*innen, Teilnehmer*innen und Mitglieder des Organisationsteams eingebracht, ohne dass sie sich noch zuordnen lassen. Die Zusammenstellung und Gewichtung der Ergebnisse und alle damit einhergehenden Wertungen, Auslassungen, redaktionellen Änderungen und Ergänzungen sind notgedrungen durch die Verfasser*innen geprägt. Etwaige Fehler liegen in deren Verantwortung. Ein Dank geht an alle, die am Projekt „Transformationshoffnung Recht?“ mitgewirkt und damit diese Inhalte mitproduziert oder ermöglicht haben: Ulrike Jürschik, Caterina Kähler, Henrike Lindemann, Marvin Neubauer und Klara Podzuweit (in alphabethischer Nennung) haben das Wochenende ehrenamtlich initiiert, konzipiert, organisiert und durchgeführt. Für die gehaltvollen Vorträge, Workshops und einen Teil der für diesen Text verwendeten Thesen ist den Referierenden des Wochenendes zu danken (in Reihenfolge des Programms): Klara Stumpf, Gerd Winter, Ida Westphal, Jenny García Ruales, Andreas Gutmann, Arno Arpaci, Peter E. Donatus, Christopher Scheid, Véronique Schirrmeister, Katja Schubel und Johann Steudle. Sabine Schlacke und Wolfgang Köck sowie Timo Luthmann gebührt Dank für weitere Eindrücke, Ausblicke und Raum zum Erfahrungsaustausch während des Rahmenprogramms. Herzstück bildeten die ca. 25 Teilnehmenden, die mit ihren aktivistischen, wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen die Ergebnisse des Wochenendes geprägt haben. Videos mit ihrer Perspektive auf das Recht als Transformationshoffnung, die in Workshops durch Teilnehmende ausgewertet wurden, steuerten bei (in alphabetischer Nennung): Stefan Aykut, Daniel Eichhorn, Felix Ekardt, Isabel Feichtner, Fridays for Future (Rechtshilfe AG), Franziska Heß, Klaus Jacob, Amanda Luna Tacunan, das NABU Legal Team, Nadja Salzborn, Simon Schuster, Yoann Thiemann, Annette Elisabeth Töller, Roda Verheyen und Christina Voigt. Möglich wurde das Projekt „Transformationshoffnung Recht?“ institutionell durch die Trägerschaft und administrative Unterstützung des Green Legal Impact e. V. sowie finanziell durch die Förderung der Winterstiftung für Rechte der Natur, die Elektrizitätswerke Schönau und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ.
1 Die Teilnehmendengruppe des Wochenendseminars „Transformationshoffnung Recht?“ setzte sich überwiegend aus Menschen zusammen, die als weiße Akademiker*innen große Privilegien erfahren. Wir danken Peter Emorinken Donatus, Jenny Garcia Rualez und Amanda Luna dafür, dass sie als Referent*innen bzw. ihre Teilnahme an unserer Video-Aktion ihre Perspektiven mit uns geteilt haben.
Stellungnahme zur medialen Berichterstattung über Protest der „Letzten Generation“
Bedenkliche Angriffe auf die Versammlungsfreiheit
Die Klimaprotestbewegung „Letzte Generation“ steht in diesen Tagen besonders im Fokus der
öffentlichen Debatte und Berichterstattung. Die Angriffe, denen sich die Aktivist*innen sowohl von Seiten
der Politik, in den Sozialen Medien und auch von Seiten einiger Medien ausgesetzt sehen, stellen
zentralen Garantien unserer Verfassung in Frage und offenbaren ein gestörtes Verständnis von
Rechtsstaatlichkeit.
GLI verurteilt derartige Angriffe auf die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit und die
öffentlichen Debattenbeiträge, die im Gegensatz zu den friedlichen Demonstrant*innen, demokratiefeindliche Züge aufweisen.
1 Hintergrund
Ende Oktober 2022 wurde eine Radfahrerin auf der Bundesallee in Berlin von einem LKW überfahren.
Wenige Tage später erlag sie ihren schweren Verletzungen. Für mediale Aufregung sorgte der Umstand, dass ein Bergungsfahrzeug der Feuerwehr möglicherweise verzögert zur Unfallstelle gelangte, nachdem es auf der städtischen Autobahn (A 100) infolge einer Protestaktion von Aktivist*innen der “Letzten
Generation” zu Verkehrsbehinderungen gekommen war. Im Nachgang wurde in zahlreichen Medien den Aktivist*innen eine gewisse Mitverantwortung für den Tod der Frau zugeschrieben, und in den sozialen Netzwerken ergoss sich eine Welle von Hass und Hetze.
Politiker*innen sahen sich veranlasst, „ein hartes Durchgreifen der Polizei“ und eine „schnelle und
konsequente“ Strafverfolgung (Bundesinnenministerin Nancy Faeser) zu fordern und öffentlich über die
Möglichkeit von Haftstrafen für solche Protestformen nachzudenken (Bundesjustizminister Marco Buschmann). Am Wochenende legten Unionspolitiker*innen nach und kündigten einen Antrag im Bundestag an, mit dem eine Mindestfreiheitsstrafe für Straßenblockaden und präventive Gewahrsam gegen Klimaaktivist*innen eingeführt werden sollen.
Die „Letzte Generation“ veröffentlichte zwei Statements: Eines unmittelbar nach dem Unfall und eines in Reaktion auf die öffentliche Debatte zu dem Geschehen. An einem Mitverursachungsbeitrag der Protestaktion der „Letzten Generation“ und einer dadurch möglicherweise verzögerten Anfahrt des Bergungsfahrzeugs an dem Tod der Radfahrerin bestehen nach Berichten der Süddeutschen ohnehin erhebliche Zweifel. Unabhängig davon sieht GLI in der Art und Weise, wie die Debatte über die Protestaktion geführt wird, nicht in den Protesten als solche, eine Gefährdung verfassungsrechtlicher Garantien. Der öffentliche Diskurs über die Proteste der „Letzten Generation“ ist selbstverständlich legitim – eine kontroverse Debatte ist in der provokanten Protestform
bereits angelegt. Die Versammlungsfreiheit unseres Grundgesetzes schützt aber auch unliebsamen Protest.
2 Das Grundgesetz schützt störenden Protest
Die Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz (GG) stellt einen Eckpfeiler der demokratischen
Grundordnung dar, der von der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG erfasst wird. Nicht umsonst
betont das Bundesverfassungsgericht unerlässlich: „Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist
die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend“ (BVerfG,
Beschl. v. 17. April 2020, 1 BvQ 37/20, Rn. 20).
Dabei schützt die Versammlungsfreiheit gerade auch das Recht, alltägliche Abläufe und Verhaltensweisen zu stören, zu behindern, anzuecken oder zu „nerven“, um damit auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen. Darüber hinaus gewährleistet Artikel 8 GG nicht nur die freie Wahl
des Ortes (und damit den Protest auf öffentlichen Straßenflächen), sondern auch die Form des Protestes. Folglich unterfallen Sitzblockaden auf Straßen und das Ankleben ebenso dem Schutzbereich, wie es herkömmliche Demonstrationszüge und Kundgebungen tun. Dass damit regelmäßig eine Störung für den Verkehr, Arbeits- und Betriebsabläufe einhergehen, nimmt das Grundgesetz zugunsten eines öffentlichen Meinungskampfes und demokratischen Diskurses bewusst in Kauf. Deshalb dürfen jährlich Traktor-Kolonnen durch Innenstädte rollen, Fahrrad-Demonstrationen auf Autobahnen stattfinden, darf in Flughäfen und Einkaufszentren demonstriert werden und – ungeachtet eines zu missbilligenden Inhalts – eben auch Corona-Leugner*innen oder Pegida-Demonstrationen durch die Straßen
ziehen. Die gleichen Grundsätze gelten auch für Proteste von Klimaaktivist*innen, die sich auf Straßenflächen und -brücken festkleben. Daher offenbart es ein zutiefst antidemokratisches Bewusstsein, wenn Zeitungen andeuten, dass doch eher gegen Demonstrierende vorgegangen werden solle, statt gegen deren berichtigtes Anliegen – nämlich den Schutz des Klimas.
Jede Form von Versammlung auf öffentlichem Grund birgt das abstrakte Risiko, Einsatzfahrzeuge zu behindern und dadurch Anfahrtswege potenziell zu erschweren. Den Verkehr behindern auch regelmäßig Veranstaltungen ohne politischen Anlass, wie Laufveranstaltungen, Radrennen oder Volksfeste. Dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, ist dabei zuvorderst die Aufgabe der
Versammlungs- bzw. Ordnungsbehörden. Bei Spontanversammlungen und Protestformen des zivilen
Ungehorsams tragen – angesichts der eingeschränkten Vorbereitungsmöglichkeiten – auch die Aktivist*innen eine besondere Verantwortung, im Rahmen des ihnen Möglichen, Gefährdungen für sich und unbeteiligte Dritte auszuschließen. Die „Letzte Generation“ hat dies nach eigenen Angaben stets versucht. Gänzlich ausschließen lässt sich ein Restrisiko indes nicht, bei keiner Versammlungsform.
Unsere Verfassung erkennt dieses abstrakte Risiko an – und nimmt es bewusst in Kauf. Das Anliegen der Demonstrierenden ist – soweit nicht gegen die verfassungsmäßige Grundordnung gerichtet – dabei
rechtlich schlicht irrelevant.
Demonstrationen auf und über Autobahnen unterfallen – auch nach der Rechtsprechung des BVerfG – dem Schutzbereich von Artikel 8 GG. Aus diesem Grund dürfte auch ein pauschales Verbot von Versammlungen auf Autobahnen nicht mit der Verfassung vereinbar sein.
3 Strafverfolgung durch unabhängige Justiz
Richtig ist: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gilt nicht schrankenlos und kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit vor unmittelbaren Gefahren eingeschränkt werden. Überall dort, wo der Protest selbst oder das Verhalten einzelner Teilnehmenden die Grenzen zur Strafbarkeit überschreiten, setzt die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden zu entsprechenden Ermittlungen ein. Bislang haben sich die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ den strafrechtlichen Konsequenzen ihres Verhaltens kompromisslos gestellt und einige von ihnen wurden bereits wegen Nötigung (§ 240 StGB) verurteilt.
Rufe nach „konsequenter“ Verfolgung und einem „harten Durchgreifen“ durch eine Innenministerin und Vorschläge zur Strafzumessung von einem Justizminister sind systemwidrig. Sie erwecken gerade den Eindruck, dass manche Versammlungsformen eben unabhängig von der Einzelfallprüfung durch Gerichte politisch geahndet werden sollen. Solche Äußerungen sind aber mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Unabhängigkeit der Justiz schwer vereinbar.
4 Debatte lenkt von der verkehrs- und klimapolitischen Realität ab
Spekulationen über eine mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit der Aktivist*innen für den Tod der
Radfahrerin sind ebenso wie Vorschläge zur Verschärfung des Strafrechts nicht nur voreilig, weil an einer Mitursächlichkeit der Proteste nach Aussagen der Rettungskräfte erhebliche Zweifel bestehen. Sie sind auch irritierend, weil in vergleichbaren Situationen bislang keine dahingehende öffentliche Debatte – geschweige denn von so vielen Politiker*innen und Amtsträger*innen – über mögliche strafrechtliche Konsequenzen geführt wird. Weder die fatalen Konsequenzen durch Versäumnisse beim Bilden von Rettungsgassen auf Autobahnen, noch Behinderungen von Rettungskräften durch ordnungswidrig parkende Fahrzeuge vermochten bislang entsprechende Diskussionen auszulösen. Noch weniger
fühlten sich bisher Unionspolitiker*innen dadurch veranlasst, Verschärfungen bei der Ahndung von
Falschparkenden zu fordern.
Vor allem aber lenkt die Debatte auf groteske Weise von dem eigentlichen Problem ab: Die Gefahren für
Radfahrende im Straßenverkehr und ihre noch immer fehlende Berücksichtigung in der Verkehrsplanung. 2021 starben allein in Berlin zehn Fahrradfahrer*innen im Verkehr, sechs davon wurden von LKWs überrollt. Der jüngste tödliche Verkehrsunfall auf der Bundesallee war bereits der achte dieser Art in diesem Jahr – und blieb tragischerweise auch nicht der letzte. Hier besteht
tatsächlich dringender politischer Handlungsbedarf.
Die Protestierenden nehmen – unter hohen persönlichen Risiken – strafrechtliche Konsequenzen in Kauf, um auf die dramatische klimapolitische Realität hinzuweisen. Am selben Tag, an dem die öffentliche Debatte endgültig ausuferte, warnten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der Leiter des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Johann Rockström, auf einer
Pressekonferenz eindringlich vor den erheblichen Gesundheitsgefahren und tausenden vorzeitigen
Todesfällen durch den Klimawandel. Und nur einen Tag später stellt der Expert*innenrat für Klimafragen in
seinem veröffentlichten Gutachten klar, dass Deutschland weit davon entfernt ist, seine verfassungs- und
freiheitsrechtlich determinierten Klimaschutzziele zu erreichen. Solange derartige Meldungen weitgehend ungehört verhallen, wird die Radikalität der Realität auch künftig Menschen dazu bewegen, störende Protestformen zu wählen. Das ist kein Zeichen antidemokratischer Gesinnung, sondern der steigenden Gefahr, die Menschen in Deutschland und anderswo (zu Recht) im Klimawandel sehen.
Generalanwalt stärkt Verbandsklagerechte
Generalanwalt Rantos: Anerkannte Umweltvereinigungen müssen eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge, die mit möglicherweise verbotenen „Abschalteinrichtungen“ ausgestattet sind, vor Gericht anfechten können
In dem Vorabentscheidungsersuchen geht es unter anderem um die Frage, gegen welche Entscheidungen Umweltverbände klagen können. Hintergrund sind die Regelungen der Aarhus-Konvention (AK) und deren Umsetzung im deutschen Recht. Die Deutsche Umwelthilfe e.V. klagte vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht gegen eine Entscheidung der zuständigen Behörde über die EG-Typengenehmigung für Fahrzeuge der Volkswagen AG. Mit dieser Entscheidung wurde für Fahrzeuge mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software genehmigt. Diese Software reduziert bei bestimmten äußeren Temperaturen die Abgasrückführung, was eine Erhöhung der Stickoxidemissionen zur Folge hat. Die Deutsche Umwelthilfe macht geltend, dass es sich bei dieser Software um eine rechtswidrige „Abschalteinrichtung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handele.
Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vertritt die Ansicht, dass der Deutschen Umwelthilfe nach nationalem Recht die Klagebefugnis zur Anfechtung dieser Entscheidung fehle. Seine erste Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof lautet daher, ob Art. 9 Abs. 3 AK in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verlangt, dass eine anerkannte Umweltvereinigung eine Verwaltungsentscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, im Hinblick auf Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 vor den nationalen Gerichten anfechten kann.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs können für Rechtsbehelfe gemäß Art. 9 Abs. 3 AK „Kriterien“ festgelegt werden. Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des ihnen insoweit überlassenen Gestaltungsspielraums verfahrensrechtliche Vorschriften über die Voraussetzungen der Einlegung solcher Rechtsbehelfe erlassen können.
Der deutsche Gesetzgeber hat das getan. § 1 Abs. 1 S. 1 UmwRG enthält eine Liste von Entscheidungen, gegen die anerkannte Umweltvereinigungen Rechtsbehelfe einlegen können. Produktzulassungen, wie die Verwaltungsentscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung erteilt wird, sind nicht Bestandteil dieser Liste. Bei der Novellierung im Jahr 2017, mit der das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz an europarechtliche und völkerrechtliche Vorgaben angepasst werden sollte, hat sich der deutsche Gesetzgeber bewusst für diesen Listenansatz und gegen eine Generalklausel entschieden. Rechtswissenschaftler*innen und Umweltvereinigungen bezweifeln jedoch, dass diese Beschränkung der Rechtsbehelfe von anerkannten Umweltvereinigungen mit den Vorgaben der Aarhus-Konvention und dem Unionsrecht vereinbar ist.
Generalanwalt Athanasios Rantos empfiehlt dem Gerichtshof in seinen Schlussanträgen nun, die Frage nach der Klagebefugnis der Deutschen Umwelthilfe zu bejahen. Seiner Auffassung nach muss eine anerkannte Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, die möglicherweise gegen das Verbot von Abschalteinrichtungen verstößt, vor einem innerstaatlichen Gericht anfechten können. Er stellt auch klar: „Soweit sie Umweltorganisationen eine Anfechtung einer solchen Zulassungsentscheidung gänzlich verwehren, genügen die betreffenden nationalen Verfahrensvorschriften nicht den Anforderungen des Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta.“ Das bedeutet, das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz muss in diesem Punkt überarbeitet werden.
Denn die Aarhus-Konvention verpflichtet in Verbindung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union die EU-Mitgliedstaaten dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Umweltrecht der Union garantierten Rechte zu gewährleisten.
Das sieht auch Remo Klinger so, der die Deutsche Umwelthilfe in dem Verfahren als Rechtsanwalt vertritt und Mitglied bei Green Legal Impact ist: „Artikel 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention berechtigt Umweltverbände, jeden Umweltrechtsverstoß vor Gericht zu bringen. Die deutsche Rosinenpickerei, nach der nur bestimmte Rechtsverstöße gerügt werden können, ist damit unvereinbar. Dass man schon gar nicht alle Umweltrechtsverstöße, die bei der Genehmigung von Autos begangen werden, von einer gerichtlichen Überprüfung ausschließen darf, hat der Generalanwalt eindrucksvoll bestätigt.“
Die Schlussanträge des Generalanwalts stellen einen Entscheidungsvorschlag dar und sind für den Gerichtshof nicht bindend. Eine abschließende Entscheidung hat der Gerichtshof noch nicht getroffen.
Links
21.06.2021: Unser Vorstandsmitglied Roda Verheyen sprach mit anderen Expert*innen zu dem bahnbrechenden Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 24.03.2021 und zur daraus folgenden Anpassung des Klimaschutzgesetzes.
21. Juni 2021
Shell von Niederländischem Gericht verurteilt
Das Bezirksgericht Den Haag ordnet an, dass Royal Dutch Shell (RDS) seine CO2-Emissionen bis Ende 2030 auf netto 45% gegenüber dem Niveau von 2019 durch die Konzernpolitik des Shell-Konzerns reduzieren muss.
Presserichterin Jeannette Honée erläutert das Urteil
Die Antragsteller und ihre Forderungen
Diese Verfügung erging in einem Verfahren, das von sieben Stiftungen und Verbänden sowie über 17.000 Einzelklägern angestrengt wurde. Den Klägern zufolge tut RDS als politischer Kopf des Shell-Konzerns nicht genug, handelt rechtswidrig und muss mehr tun, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Die Kläger forderten, dass die CO2-Emissionen bis 2030 um 45 %, alternativ 35 % oder 25 %, gegenüber dem Stand von 2019 reduziert werden müssen. Die Klagen betreffen die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns selbst, aber auch die seiner Lieferanten und Kunden.
Shell verpflichtet zur CO2-Reduzierung
Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass RDS verpflichtet ist, für die CO2-Reduzierung des Shell-Konzerns, seiner Lieferanten und Kunden zu sorgen. Dies ergibt sich aus dem für RDS geltenden ungeschriebenen Sorgfaltsmaßstab, den das Gericht auf der Grundlage des Sachverhalts, weit verbreiteter Erkenntnisse und international anerkannter Standards interpretiert hat.
Die Shell-Gruppe ist einer der größten Produzenten und Lieferanten von fossilen Brennstoffen weltweit. Die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns, seiner Lieferanten und Kunden übersteigen die vieler Länder. Dies trägt zur globalen Erwärmung bei, die zu einem gefährlichen Klimawandel führt und ernsthafte Risiken für die Menschenrechte, wie das Recht auf Leben und ungestörtes Familienleben, birgt. Es ist allgemein anerkannt, dass Unternehmen die Menschenrechte respektieren sollten. Dies ist eine eigenständige Verantwortung der Unternehmen, unabhängig davon, was die Staaten tun. Diese Verantwortung erstreckt sich auch auf Lieferanten und Kunden. RDS hat eine Ergebnisverpflichtung in Bezug auf die CO2-Emissionen der Shell-Gruppe selbst. Gegenüber Lieferanten und Kunden besteht eine gewichtige Anstrengungsverpflichtung, d.h. RDS muss seinen Einfluss über die Konzernpolitik der Shell-Gruppe geltend machen, indem z.B. über die Einkaufspolitik Anforderungen an Lieferanten gestellt werden. RDS hat völlige Freiheit, die Reduktionsverpflichtung nach eigenem Ermessen zu erfüllen und die Konzernpolitik der Shell-Gruppe zu gestalten. Die Opfer, die dies erfordert, überwiegen nicht das Interesse an der Bekämpfung des gefährlichen Klimawandels.
Drohende Verletzung der Reduktionspflicht
Das Gericht stellt nicht fest, dass RDS bereits gegen diese Verpflichtung verstößt, wie die Kläger argumentieren. RDS hat die Politik der Shell-Gruppe verschärft und ist dabei, sie auszuarbeiten. Da die Politik nicht konkret ist, viele Vorbehalte hat und sich darauf stützt, gesellschaftlichen Entwicklungen zu folgen, anstatt selbst für eine CO2-Reduktion zu sorgen, sieht das Gericht einen drohenden Verstoß gegen die Reduktionspflicht in der Zukunft. Das Gericht verpflichtete RDS daher, die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns, seiner Lieferanten und Kunden bis Ende 2030 auf netto 45% gegenüber dem Stand von 2019 zu reduzieren.
Urteil in englischer Sprache
Zum Weiterhören
Hören Sie hierzu auch ein Interview mit GLI-Vorstandsmitglied Roda Verheyen im Deutschlandfunk vom 27.02.2021 („Deutschlandfunk – Der Tag“, ab Minute 18).
Verbändebriefe zur Revision der Aarhus-Verordnung (Verordnung 1367/2006)
Bei der Abstimmung im Umweltausschuss Mitte April 2021 steht viel auf dem Spiel – auch wenn es bei den prozessrechtlichen Themen vielleicht nicht immer auf der Hand liegt. Hier geht es um die Handlungsmöglichkeiten der Verbände, um die Umsetzung der Umweltgesetze – und um Rechtsstaatlichkeit.
Die EU kann nur dann für sich in Anspruch nehmen, einen hohen Umweltschutzstandard zu gewährleisten, wenn dieser auch tatsächlich umgesetzt wird und nicht nur auf dem Papier steht. Dafür brauchen wir auch eine Überprüfbarkeit der Umsetzung vor Gericht durch Verbände und Einzelpersonen. Die Aarhus-Konvention von 1998 schreibt dies eindeutig vor. Die EU hat aber den Zugang zu Gerichten bislang nicht befriedigend umgesetzt – obwohl sie seit 2005 Vertragspartei der Konvention ist und obwohl sie ihre eigenen Mitgliedsstaaten ihrerseits oft daran erinnert. Das unabhängige Aarhus-Komitee hat in ACCC/C/2008/32 (Teil II) bestätigt, dass die EU den internationalen Vertrag verletzt – seitdem wurde das EU-Recht aber nicht angepasst.
GLI hat daher gemeinsame Briefe der großen deutschen Umweltverbände initiiert und an die EU-Parlamentarier und die Bundesumweltministerin versandt.
Links
Brief an die Mitglieder des Umweltausschusses des EU-Parlaments
Brief an die deutsche Bundesumweltministerin – und ihre Antwort
Verbändeappell zum Klimaschutzgesetz
16. März 2021: Wir fordern die Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen – zusammen mit der Klima-Allianz und einem großen Bündnis.
Stellungnahme zum Planungssicherstellungsgesetz
1. März 2021: GLI hat eine Stellungnahme zum Planungssicherstellungsgesetz mitgezeichnet. Dieses Gesetz regelt Formate der Öffentlichkeitsbeteiligung während der Corona-Pandemie.