Bedenkliche Angriffe auf die Versammlungsfreiheit

Die Klimaprotestbewegung „Letzte Generation“ steht in diesen Tagen besonders im Fokus der
öffentlichen Debatte und Berichterstattung. Die Angriffe, denen sich die Aktivist*innen sowohl von Seiten
der Politik, in den Sozialen Medien und auch von Seiten einiger Medien ausgesetzt sehen, stellen
zentralen Garantien unserer Verfassung in Frage und offenbaren ein gestörtes Verständnis von
Rechtsstaatlichkeit.

GLI verurteilt derartige Angriffe auf die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit und die
öffentlichen Debattenbeiträge, die im Gegensatz zu den friedlichen Demonstrant*innen, demokratiefeindliche Züge aufweisen.

1 Hintergrund

Ende Oktober 2022 wurde eine Radfahrerin auf der Bundesallee in Berlin von einem LKW überfahren.
Wenige Tage später erlag sie ihren schweren Verletzungen. Für mediale Aufregung sorgte der Umstand, dass ein Bergungsfahrzeug der Feuerwehr möglicherweise verzögert zur Unfallstelle gelangte, nachdem es auf der städtischen Autobahn (A 100) infolge einer Protestaktion von Aktivist*innen der “Letzten
Generation” zu Verkehrsbehinderungen gekommen war. Im Nachgang wurde in zahlreichen Medien den Aktivist*innen eine gewisse Mitverantwortung für den Tod der Frau zugeschrieben, und in den sozialen Netzwerken ergoss sich eine Welle von Hass und Hetze.
Politiker*innen sahen sich veranlasst, „ein hartes Durchgreifen der Polizei“ und eine „schnelle und
konsequente“ Strafverfolgung (Bundesinnenministerin Nancy Faeser) zu fordern und öffentlich über die
Möglichkeit von Haftstrafen für solche Protestformen nachzudenken (Bundesjustizminister Marco Buschmann). Am Wochenende legten Unionspolitiker*innen nach und kündigten einen Antrag im Bundestag an, mit dem eine Mindestfreiheitsstrafe für Straßenblockaden und präventive Gewahrsam gegen Klimaaktivist*innen eingeführt werden sollen.
Die „Letzte Generation“ veröffentlichte zwei Statements: Eines unmittelbar nach dem Unfall und eines in Reaktion auf die öffentliche Debatte zu dem Geschehen. An einem Mitverursachungsbeitrag der Protestaktion der „Letzten Generation“ und einer dadurch möglicherweise verzögerten Anfahrt des Bergungsfahrzeugs an dem Tod der Radfahrerin bestehen nach Berichten der Süddeutschen ohnehin erhebliche Zweifel. Unabhängig davon sieht GLI in der Art und Weise, wie die Debatte über die Protestaktion geführt wird, nicht in den Protesten als solche, eine Gefährdung verfassungsrechtlicher Garantien. Der öffentliche Diskurs über die Proteste der „Letzten Generation“ ist selbstverständlich legitim – eine kontroverse Debatte ist in der provokanten Protestform
bereits angelegt. Die Versammlungsfreiheit unseres Grundgesetzes schützt aber auch unliebsamen Protest.

2 Das Grundgesetz schützt störenden Protest

Die Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz (GG) stellt einen Eckpfeiler der demokratischen
Grundordnung dar, der von der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG erfasst wird. Nicht umsonst
betont das Bundesverfassungsgericht unerlässlich: „Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist
die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend“ (BVerfG,
Beschl. v. 17. April 2020, 1 BvQ 37/20, Rn. 20).
Dabei schützt die Versammlungsfreiheit gerade auch das Recht, alltägliche Abläufe und Verhaltensweisen zu stören, zu behindern, anzuecken oder zu „nerven“, um damit auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen. Darüber hinaus gewährleistet Artikel 8 GG nicht nur die freie Wahl
des Ortes (und damit den Protest auf öffentlichen Straßenflächen), sondern auch die Form des Protestes. Folglich unterfallen Sitzblockaden auf Straßen und das Ankleben ebenso dem Schutzbereich, wie es herkömmliche Demonstrationszüge und Kundgebungen tun. Dass damit regelmäßig eine Störung für den Verkehr, Arbeits- und Betriebsabläufe einhergehen, nimmt das Grundgesetz zugunsten eines öffentlichen Meinungskampfes und demokratischen Diskurses bewusst in Kauf. Deshalb dürfen jährlich Traktor-Kolonnen durch Innenstädte rollen, Fahrrad-Demonstrationen auf Autobahnen stattfinden, darf in Flughäfen und Einkaufszentren demonstriert werden und – ungeachtet eines zu missbilligenden Inhalts – eben auch Corona-Leugner*innen oder Pegida-Demonstrationen durch die Straßen
ziehen. Die gleichen Grundsätze gelten auch für Proteste von Klimaaktivist*innen, die sich auf Straßenflächen und -brücken festkleben. Daher offenbart es ein zutiefst antidemokratisches Bewusstsein, wenn Zeitungen andeuten, dass doch eher gegen Demonstrierende vorgegangen werden solle, statt gegen deren berichtigtes Anliegen – nämlich den Schutz des Klimas.
Jede Form von Versammlung auf öffentlichem Grund birgt das abstrakte Risiko, Einsatzfahrzeuge zu behindern und dadurch Anfahrtswege potenziell zu erschweren. Den Verkehr behindern auch regelmäßig Veranstaltungen ohne politischen Anlass, wie Laufveranstaltungen, Radrennen oder Volksfeste. Dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, ist dabei zuvorderst die Aufgabe der
Versammlungs- bzw. Ordnungsbehörden. Bei Spontanversammlungen und Protestformen des zivilen
Ungehorsams tragen – angesichts der eingeschränkten Vorbereitungsmöglichkeiten – auch die Aktivist*innen eine besondere Verantwortung, im Rahmen des ihnen Möglichen, Gefährdungen für sich und unbeteiligte Dritte auszuschließen. Die „Letzte Generation“ hat dies nach eigenen Angaben stets versucht. Gänzlich ausschließen lässt sich ein Restrisiko indes nicht, bei keiner Versammlungsform.
Unsere Verfassung erkennt dieses abstrakte Risiko an – und nimmt es bewusst in Kauf. Das Anliegen der Demonstrierenden ist – soweit nicht gegen die verfassungsmäßige Grundordnung gerichtet – dabei
rechtlich schlicht irrelevant.
Demonstrationen auf und über Autobahnen unterfallen – auch nach der Rechtsprechung des BVerfG – dem Schutzbereich von Artikel 8 GG. Aus diesem Grund dürfte auch ein pauschales Verbot von Versammlungen auf Autobahnen nicht mit der Verfassung vereinbar sein.

3 Strafverfolgung durch unabhängige Justiz

Richtig ist: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gilt nicht schrankenlos und kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit vor unmittelbaren Gefahren eingeschränkt werden. Überall dort, wo der Protest selbst oder das Verhalten einzelner Teilnehmenden die Grenzen zur Strafbarkeit überschreiten, setzt die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden zu entsprechenden Ermittlungen ein. Bislang haben sich die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ den strafrechtlichen Konsequenzen ihres Verhaltens kompromisslos gestellt und einige von ihnen wurden bereits wegen Nötigung (§ 240 StGB) verurteilt.
Rufe nach „konsequenter“ Verfolgung und einem „harten Durchgreifen“ durch eine Innenministerin und Vorschläge zur Strafzumessung von einem Justizminister sind systemwidrig. Sie erwecken gerade den Eindruck, dass manche Versammlungsformen eben unabhängig von der Einzelfallprüfung durch Gerichte politisch geahndet werden sollen. Solche Äußerungen sind aber mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Unabhängigkeit der Justiz schwer vereinbar.

4 Debatte lenkt von der verkehrs- und klimapolitischen Realität ab

Spekulationen über eine mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit der Aktivist*innen für den Tod der
Radfahrerin sind ebenso wie Vorschläge zur Verschärfung des Strafrechts nicht nur voreilig, weil an einer Mitursächlichkeit der Proteste nach Aussagen der Rettungskräfte erhebliche Zweifel bestehen. Sie sind auch irritierend, weil in vergleichbaren Situationen bislang keine dahingehende öffentliche Debatte – geschweige denn von so vielen Politiker*innen und Amtsträger*innen – über mögliche strafrechtliche Konsequenzen geführt wird. Weder die fatalen Konsequenzen durch Versäumnisse beim Bilden von Rettungsgassen auf Autobahnen, noch Behinderungen von Rettungskräften durch ordnungswidrig parkende Fahrzeuge vermochten bislang entsprechende Diskussionen auszulösen. Noch weniger
fühlten sich bisher Unionspolitiker*innen dadurch veranlasst, Verschärfungen bei der Ahndung von
Falschparkenden zu fordern.
Vor allem aber lenkt die Debatte auf groteske Weise von dem eigentlichen Problem ab: Die Gefahren für
Radfahrende im Straßenverkehr und ihre noch immer fehlende Berücksichtigung in der Verkehrsplanung. 2021 starben allein in Berlin zehn Fahrradfahrer*innen im Verkehr, sechs davon wurden von LKWs überrollt. Der jüngste tödliche Verkehrsunfall auf der Bundesallee war bereits der achte dieser Art in diesem Jahr – und blieb tragischerweise auch nicht der letzte. Hier besteht
tatsächlich dringender politischer Handlungsbedarf.
Die Protestierenden nehmen – unter hohen persönlichen Risiken – strafrechtliche Konsequenzen in Kauf, um auf die dramatische klimapolitische Realität hinzuweisen. Am selben Tag, an dem die öffentliche Debatte endgültig ausuferte, warnten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der Leiter des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Johann Rockström, auf einer
Pressekonferenz eindringlich vor den erheblichen Gesundheitsgefahren und tausenden vorzeitigen
Todesfällen durch den Klimawandel. Und nur einen Tag später stellt der Expert*innenrat für Klimafragen in
seinem veröffentlichten Gutachten klar, dass Deutschland weit davon entfernt ist, seine verfassungs- und
freiheitsrechtlich determinierten Klimaschutzziele zu erreichen. Solange derartige Meldungen weitgehend ungehört verhallen, wird die Radikalität der Realität auch künftig Menschen dazu bewegen, störende Protestformen zu wählen. Das ist kein Zeichen antidemokratischer Gesinnung, sondern der steigenden Gefahr, die Menschen in Deutschland und anderswo (zu Recht) im Klimawandel sehen.