Am 20. Mai 2025 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig: Deutschland hat durch die strafrechtliche Verurteilung eines Demonstrierenden aus dem Schutzwaffenverbot gem. §§ 27 II Nr. 1, 17a I Versammlungsgesetz (VersG) gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen. Deutsche Gerichte haben das Menschenrecht der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Art. 11 EMRK, missachtet.
Der EGMR fordert zum Schutz der Versammlungsfreiheit auf und mahnt, dass „strafrechtliche Sanktionen einer besonderen Rechtfertigung bedürfen und dass eine friedliche Demonstration grundsätzlich nicht der Androhung strafrechtlicher Sanktionen unterworfen werden sollte.“ (Urt. v. 20.05.2025, Beschwerde-Nr. 44241/20, Rn. 56). Das Urteil begegnet damit einer reflexhaften Kriminalisierung von Demonstrierenden durch deutsche Behörden und macht deutlich, dass strafrechtliche Verfolgung von Protest nicht leichtfertig und ohne Abwägungs- und Begründungsaufwand erfolgen darf.
I. Plastikfolie und Gummiband als Schutzwaffe
2017 verurteilte das Amtsgericht Frankfurt am Main den Aktivisten Benjamin Ruß für die Teilnahme an der Demonstration „bunt, laut – aber friedlich“ anlässlich der Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank. Ruß trug bei der Demonstration ein selbstgebasteltes Visier aus einer transparenten Plastikfolie vor dem Gesicht, die mit einem Gummiband befestigt war. Ruß demonstrierte friedlich und während der Demonstration wurde er von der Polizei weder zur Abnahme des Visiers aufgefordert noch anderweitig beanstandet. Erst bei der Auswertung des Video-Materials im Nachgang der Demonstration fiel er den Beamten auf, die ihn als Pressesprecher der Proteste gegen den G7-Gipfel kannten. Die Folie diene dem Schutz vor polizeilichem Pfefferspray, und sie zu tragen sei damit eine Straftat, entschied das Frankfurter Gericht. Benjamin Ruß habe damit gegen das Schutzwaffenverbot aus §§ 27 Abs. 2, 17a I VersG verstoßen, (Urt. v. 03.05.2017, Az. 6150 Js 242289/15). Diese Entscheidung wurde vom Landgericht Frankfurt bestätigt. Ruß legte hierauf Verfassungsbeschwerde ein, die das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung nicht zur Entscheidung annahm. Mit Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs erhob Ruß erfolgreich Individualbeschwerde beim EGMR.
II. Das Schutzwaffenverbot
Das deutsche Bundesversammlungsrecht verbietet nach § 17a I VersG „bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel […] Schutzwaffen oder Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren, mit sich zu führen.“ Wer dagegen verstößt, macht sich gemäß § 27 II Nr. 1 VersG strafbar und riskiert Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Die Regelung verfolgt ein legitimes Ziel: das Verhindern von gewalttätigen Ausschreitungen bei Demonstrationen. Der Gesetzgeber erklärt, dass „Teilnehmer[*innen], die solche Schutzwaffen mit sich führen […] aufgrund ihres martialischen Erscheinungsbildes eine offenkundige Gewaltbereitschaft [dokumentieren] und […] auf die Menge nach massenpsychologischen Erkenntnissen eine aggressionsstimulierende Wirkung aus[üben].“ Für diese Annahme wird in der Gesetzesbegründung jedoch keine Quelle angegeben.
Das Versammlungsgesetz selbst enthält keine Definition einer Schutzwaffe. Diese findet sich in Drucksache 10/3580. Hier erklärt der Gesetzgeber, dass Schutzwaffen keine Waffen im herkömmlichen Sinne sind, sondern Gegenstände, die der Abwehr von Angriffen dienen und diese Zweckbestimmung bereits bei ihrer Herstellung beigelegt bekommen haben. Beispiele hierfür sind Schutzschilde, Panzerungen oder Ausrüstungsgegenstände für den polizeilich/militärischen Gebrauch und Kampfsportarten.
Das Mitführen dieser Gegenstände ist von Absatz 1 erfasst, ohne dass es auf eine spezielle Verwendungsabsicht zur Abwehr von Vollstreckungsmitteln wie Pfefferspray, Wasserwerfer oder Schlagstockeinsätze ankommt.
Neben den Schutzwaffen nennt § 17a I VersG Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet sind, d. h. die denselben Zweck wie Schutzwaffen erfüllen können und nach ihrer Konstruktion oder Funktionsweise einer Schutzwaffe ähnlich sind. Erforderlich ist, dass es im Bereich der Schutzwaffen einen Entsprechungsgegenstand gibt. Als Schutzwaffen geeignet sind beispielsweise Motorradhelme, da sie weitgehend dem militärischen Stahlhelm gleichen, nicht aber Regenmäntel oder ähnliche Bekleidungsstücke, für die im Bereich der Schutzwaffen kein Entsprechungsgegenstand vorhanden ist.
Das Mitführen von Gegenständen, die zwar keine Schutzwaffen sind, aber eine entsprechende Eignung besitzen, wird nur dann vom Verbot erfasst, wenn der Täter die Absicht hat, diese zur Abwehr von Vollstreckungsmaßnahmen zu verwenden.
Gemäß Absatz 3 haben die zuständigen Behörden die Möglichkeit, Ausnahmen von dem Verbot zuzulassen, wenn hierdurch eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht zu besorgen ist.
III. Kriminalisierung von Protest und die deutsche Rechtsprechung, Gesetzgebung und Behördenpraxis
Das Zusammenspiel aus Rechtsprechung, Gesetzgebung und Behördenpraxis ist in den letzten Jahren gekennzeichnet von einer fortschreitenden Einschränkung des straffreien Demonstrierens. Das Erfordernis eines subjektiven Elements in Form einer Vollstreckungsabwehrabsicht zur Annahme der Straftat des Schutzwaffen- oder Vermummungsverbots wird zunehmend zurückgefahren, in der Landesgesetzgebung werden Verbote für Demonstrierende weiter ausgeweitet und drastische Eingriffe der Sicherheitsbehörden machen friedliche Demonstrationen zu einem zunehmend gefährlichen Ort.
- Rechtsprechung
Schon 2011 entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main, dass das Mitführen eines Mundschutzes im Schuh bereits eine Straftat nach §§ 27 II Nr. 1, 17a I VersG darstellt, ohne dass ein zusätzliches subjektives Element im Sinne einer Abwehrabsicht von Vollstreckungsmitteln notwendig sei. Der Mundschutz, so das OLG, gelte als sicheres Indiz für Gewaltbereitschaft, und zwar unwiderlegbar. Durch diese Rechtsprechung wurde früh eine sehr strenge Auslegung des Schutzwaffenbegriffs etabliert, die keinerlei Ausnahme für bloßen Selbstschutz zulässt.
Auch das OLG Dresden und das OLG Karlsruhe folgen einer weiten Auslegung von § 17a VersG zulasten der Versammlungsteilnehmenden. Die Gerichte beschlossen, dass sowohl das Vermummungsverbot (§ 17a II VersG) als auch das Schutzwaffenverbot abstrakte Gefahrenabwehrgesetze seien und uneingeschränkt gelten, selbst wenn die Betroffenen nicht beabsichtigten, sich polizeilicher Identifizierung oder Maßnahmen zu entziehen. Bereits der Anblick vermummter und gerüsteter Personen sei eine Gefahr und indiziere unwiderlegbar Aggressionsbereitschaft.
2. Gesetzgebung
Auch in der Gesetzgebung wurde der Rahmen für straffreies Demonstrieren seit dem Erlass des ersten Landesversammlungsgesetzes 2008 in Bayern zunehmend eng gesteckt.
Die Landesgesetzgebung im Versammlungsrecht ist geprägt von Verschärfungen, wie einem Protestverbot auf Autobahnen (§ 13 Abs. 1 Satz 3 VersG NRW) oder einem Aufrufverbot (§§ 25 II Nr. 2, 7 II HVersFG), das unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Verbots bei Verstoß zur Strafbarkeit führt.
Auch die dem Versammlungsrecht der Länder eigenen Militanzverbote geben regelmäßig Anlass zur Befürchtung, dass der Handlungsspielraum für Demonstrierende weiter eingeschränkt wird.
Während das Uniformverbot des Bundes (§ 3 VersG) das Tragen einheitlicher Kleidung verbietet, wenn sie als Ausdruck gemeinsamer politischer Gesinnung galt, verschärften mehrere Bundesländer diese Vorschrift.
Bayern verbot als erstes Bundesland ein „militanzähnliches“ Erscheinungsbild auf Versammlungen. Eine Regelung, die erst nach Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts abgeschwächt wurde. Heute verbietet Bayern lediglich ein „paramilitärisches Erscheinungsbild“, das einschüchternd wirken könnte (Art. 7 BayVersG).
Nordrhein-Westfalen ging mit dem 2022 verabschiedeten Versammlungsgesetz einen ähnlichen Weg. Nach öffentlichen Protesten wurde das ursprünglich geplante pauschale „Militanzverbot“ zwar sprachlich abschwächt, das Gesetz schuf aber dennoch ein Einschüchterungsverbot. Bereits der Eindruck einer möglichen Gewaltbereitschaft bei einheitlicher Kleidung wird unter Strafe stellt und die Regelung sorgt weiterhin für Rechtsunsicherheit (§ 18 VersG NRW).
Es ist richtig, dass es Versammlungen gibt, die durch unübersehbare historische Referenzen und menschenverachtende Parolen Gewaltbereitschaft suggerieren und damit eine einschüchternde Wirkung haben. Derartigen Aufmärschen mit einem Verweis auf das Uniform- und Militanzverbot zu begegnen ist notwendig, um den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Wichtig ist jedoch, bei der Ermittlung des Einschüchterungselements auf die Gesamtumstände der Versammlung (Erscheinungsbild und Ausgestaltung der Versammlung) zu achten und keinen Automatismus zur Kriminalisierung von Gruppen mit identifizierenden Elementen der Bekleidung (z. B. Farbe der Kleidung, Tragen gelber Weste) zu etablieren.
3. Behördliche Praxis
Während der Einsatz von Pfefferspray und anderen Reizstoffen nach Biowaffenkonvention im Kriegsfall verboten sind, werden die Substanzen im Kontext deutscher Polizeieinsätze gegen Protestierende großzügig eingesetzt. Pfefferspray kommt in Deutschland als Hilfsmittel des unmittelbaren Zwangs zur Anwendung. Es schließt laut Bundesregierung die Lücke zwischen einfacher körperlicher Gewalt und schärferen Zwangsmitteln wie der Schusswaffe. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren den Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken gegen Demonstrierende in Deutschland jedoch als regelmäßig ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig.
Eine Vielzahl von Fällen deutet auf rechtswidrige Zwangsmitteleinsätze bei Demonstrationen hin (so etwa hier, hier und hier). Polizist*innen werden in Deutschland allerdings nur sehr selten für übermäßige Gewalt belangt. Über 90 % der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamt*innen wegen Körperverletzung im Amt werden eingestellt. Nur in rund 2 % der Fälle kommt es überhaupt zur Anklage.
Hierbei wird ein deutliches Ungleichgewicht zwischen staatlichen Zwangsmitteln und individuellen Schutzmöglichkeiten deutlich. Während der Einsatz von Zwangsmitteln gegen Demonstrierende ungerechtfertigt und nahezu folgenlos erfolgen kann, wird jeglicher Selbstschutz gegen potenziell gesundheitsschädliche Substanzen und sonstige Gewalt pauschal kriminalisiert.
IV. Die Bedeutung von friedlichem Protest und die EGMR-Entscheidung
Das Versammlungsrecht ist nicht nur in Art. 11 EMRK verankert, sondern auch in Art. 8 I GG und wichtiger Bestandteil unserer Demokratie. Während ein Waffenverbot sich unproblematisch aus der Verfassung ableitet, wird ein vorschneller Rückgriff auf die Verbote des § 17a VersG regelmäßig als mit der Verfassung unvereinbar kritisiert.
Das Ruß-Urteil des EGMR markiert einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Versammlungsfreiheit in Deutschland und stellt sich der obig skizzierten leichtfertigen Kriminalisierung von Protest entgegen.
Entgegen häufig geübter Kritik sieht der EGMR § 17a I VersG als hinreichend bestimmt und anerkennt das legitime Ziel der versammlungsrechtlichen Regelungen „Unruhen und Straftaten vorzubeugen sowie die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen.“ (Urt. v. 20.05.2025, Beschwerde-Nr. 44241/20, Rn. 48).
Trotz des nationalen Beurteilungsspielraums haben die deutschen Gerichte jedoch nicht hinreichend dargelegt, weshalb eine Verurteilung für das Tragen simpler Schutzvorrichtungen eine „für eine demokratische Gesellschaft notwendige“ Beschränkung der Versammlungsfreiheit darstellt (Urt. v. 20.05.2025, Beschwerde-Nr. 44241/20, Rn. 49).
Der EGMR kritisiert, dass das Strafgericht lediglich feststellt, dass das Visier ausschließlich dem Zweck dienen könne, Pfefferspray abzuwehren, ohne eine weitergehende Gefahrenprognose vorzunehmen. Der EGMR statuiert, dass „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung […] bei einigen Objekten und Konstruktionen, die unter den Begriff „Schutzwaffen“ fallen, offensichtlich sein mag,“ bei einfachen Konstruktionen wie einer Plastikfolie und einem Gummiband sei diese routinierte Annahme einer Gefahr jedoch nicht mit der EMRK zu vereinbaren (Urt. v. 20.05.2025, Beschwerde-Nr. 44241/20, Rn. 53). In diesen Konstellationen kann eine aggressionsstimulierende Wirkung und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur nach eingängiger Gefahrenprüfung und Begründung durch die Strafgerichte angenommen werden. In diesem Zusammenhang kritisiert der EGMR auch, dass die deutschen Behörden die Ausnahmevorschrift des § 17a III VersG nicht berücksichtigt haben, sondern allein aufgrund des Visiers generell auf eine Gewaltbereitschaft des Demonstrierenden schlossen.
Der EGMR fordert eine präzise, kontextbezogene Abwägung der Versammlungsfreiheit gegen das Interesse der öffentlichen Sicherheit, bevor Teilnehmende einer Demonstration wegen einfacher Schutz- oder Symbolgegenstände strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Er widerspricht damit gerade der automatisierten und pauschalen Kriminalisierung eines jeden Gegenstands, der dem Schutz der Demonstrierenden dient.
Vielmehr muss demnach ein verurteilendes Gericht darlegen, warum die strafrechtliche Verfolgung der Demonstrierenden im konkreten Fall verhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Durch das Urteil macht der EGMR deutlich, dass nicht jede Form des Selbstschutzes im Rahmen einer Demonstration routiniert zu einer Verurteilung führen darf. Die deutschen Behörden unterliegen vielmehr einer Begründungs- und Abwägungspflicht im Einzelfall. Der EGMR signalisiert damit eine Grenze für die automatisierte Kriminalisierung von Protest.
V. Fazit
Die Entscheidung stärkt das Versammlungsrecht und erfordert eine Neuausrichtung der deutschen Rechtspraxis, die das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Gewaltmonopol und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit im Versammlungskontext ernst nimmt. Sie verbietet eine pauschale und unbegründete Kriminalisierung friedlicher Demonstrierender, die sich durch einfache Konstruktionen vor Polizeigewalt schützen wollen. Deutsche Gerichte sind in der Pflicht, zu begründen, weshalb der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine strafrechtliche Verfolgung im konkreten Fall erfordert und müssen dieses legitime Ziel mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit abwägen. Das Recht auf Versammlungsfreiheit darf nicht ohne Abwägung und Begründung hintenangestellt werden. Eine reflexhafte Anwendung von strafrechtlich relevanten Verbotsnormen ohne hinreichende Gefahrenanalyse genügt den Anforderungen der EMRK nicht.